264 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag

€ 24.00

ISBN 978-3-903184-24-4

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Gudrun Seidenauer

WAS WIR EINANDER NICHT ERZÄHLTEN

Anders, wild und unerschrocken – so tritt Mella in Maries Leben. Zwei ungleiche Freundinnen, die in der Schule noch am liebsten alles miteinander teilen würden, doch später im Leben erfahren werden, dass dies unmöglich ist – speziell, wenn es um die Liebe geht. Ein wunderbarer Roman über Freundschaft und deren Scheitern an Unsagbarem.

Die ungewöhnliche Mella trifft auf Marie, sie werden in der Klasse nebeneinandergesetzt und gleich beste Freundinnen. Von nun an wird Maries kleinkariertes Leben bunt und tief. Zu träumen und zu tun, was man will: Das ist Mellas Zauberformel, mit der sie der immer bedrohlicheren Verrücktheit ihrer Mutter begegnet. Mella erfindet sich ihre Freiheit, liebt ihren Vater, einen Musiker, beflügelt die bravere Freundin und weigert sich, Opfer zu sein.
Für Mella ist das Leben eine Geschichte, die wir selbst erzählen, ein Song, den wir unseren Träumen ablauschen. Im Laufe des Erwachsenwerdens gerät die Freundschaft der beiden, mit Wünschen überfrachtet, in eine gefährliche Schieflage: Begehren, Verrat und das Scheitern an Ungesagtem und Unsagbarem führen zum Zerwürfnis. Auch der Tod wird dabei ein Wörtchen mitreden.
Wird es in einer zufälligen Wiederbegegnung zwanzig Jahre später gelingen, die nicht zu vereinbarenden Wahrheiten der jeweils anderen gelten zu lassen?

Ö1 Lesetipp

Ö1 Buch des Monats

Jurybegründung: "Was wir einander nicht erzählten" ist ein Buch über die Leerstellen zwischen den Sätzen und das Zerstörerische des Unausgesprochenen. Gudrun Seidenauer verschränkt das Damals mit dem Heute und verzahnt die Ebenen oft unvermutet. Das schafft Spannung und prägt den flirrenden Charakter des Romans. Es gelingt ihr, die Erfahrungswelten der jungen und dann älter gewordenen Frauen plastisch zu schildern und damit den Tonfall der Hauptfiguren lebendig und glaubwürdig zu gestalten, ohne sie damit unnötig zu psychologisieren.

»Kyoto ist ein Anagramm von Tokyo, ist dir das schon aufgefallen?« Sie reden nicht viel auf der gut zwei Stunden dauernden Zugfahrt in den Westen. Die Sitze riechen nach Plastik und Putzmittel mit irgendeinem Fruchtaroma. Schon Minuten nach der Abfahrt ist der Zug so schnell, dass die Gebäude entlang der Gleise als lang gezogene Farbflecken erscheinen, nur weiter weg Liegendes ist deutlich zu erkennen. Die Luft ist wie elektrostatisch aufgeladen. Erst nach geraumer Zeit durchbrechen da und dort terrassierte Felder die Stadtlandschaft. Für eine Weile führen die Schienen einer mehrspurigen Autobahn entlang. Vom Flugzeug aus hat Marie gesehen, wie die Auf- und Abfahrten den Großraum Tokyo mit Kleeblattmustern sprenkeln.
»Erinnerst du dich noch daran, als wir pausenlos Anagramme gemacht haben?«, fragt Marie. »Das war vor deinem Englandjahr, du hast dort weitergemacht. In jedem deiner Briefe war mindestens eines davon. Es war fantastisch, was du aus diesen Sätzen he-rausgeholt hast.«
Ein paar Monate lang hatte Mella täglich Zeit damit verbracht, aus Zeilen, die ihr gefielen, Gedichte zu basteln. Sie probierte mit den Buchstaben herum, bis neue Zeilen daraus wurden. Dabei durfte kein Buchstabe übrig bleiben. Mella hatte einmal über dieses barocke Sprachspiel gelesen und war fasziniert davon.
»Du warst richtig gut darin. Warte mal, eines war doch: ›Diese Felder aus Schweigen, unbetretbar‹, ›Feuer wird Haut: Des Lebens ABC ersteigen‹.«
»Das weißt du noch?«
Mella hält inne, sieht aus dem Fenster. Sie passieren ein Industriegelände mit kupferfarbenen Röhrensystemen und mächtigen Strommasten dahinter, die sich bis in den Horizont erstrecken. »Die Anagramme waren eins von den Dingen, die mir halfen, nicht an Cordula zu denken. Damals fand ich es magisch.«
Mella lacht, eine Spur verlegen.
»Und etwas, das du konntest. Du konntest alles, was mit Sprache zu tun hatte.«
»Ich hätte lieber etwas anderes gekonnt. Malen, Geige spielen, was weiß ich. Musik ist ein viel sichereres Versteck als Worte. Schau dir Alex an. Worte sind eben von Natur aus Schwätzer. Wenn du redest, verrätst du dich immer.«
»Daran liegt es nicht«, entgegnet Marie. »Es ist das Wie. Der Tonfall, das Dazwischen. Wenn du genau hinhörst, spürst du das Ungesagte.«
Sie denkt an die Frauen, die sie interviewt hat, Schwestern, Mütter, Partnerinnen von Gewalttätern. Die Schwierigkeit des Deutens blieb, selbst wenn das Verschwiegene beinah zu greifen war. Welche Wahrheit lag in den Seufzern, im nervösen Klicken der Feuerzeuge, im Lachen an Stellen, wo man es nicht erwarten würde? Was war mit dem Zucken der Augenlider, dem unablässigen Streichen über die Tischfläche, den zahllosen kleinen Gesten und Handlungen? Ein paarmal war Marie knapp davor, alles hinzuwerfen, so vage kam ihr alles vor, was sie über die Motive und Gefühle ihrer Gesprächspartnerinnen zu verstehen glaubte. Immer nach einer solchen Phase stürzt sie sich verstärkt auf valide Daten, vergleicht, verifiziert, nur um dann wieder zu erkennen, dass die Fixierung auf Details wiederum den Blick aufs Ganze trübt. Wann kann man sicher sein, dass einem nicht gerade das Wesentliche entgeht?
»Je mehr ich zugehört habe, desto weniger habe ich geglaubt zu verstehen.«
Mella hört zu, ohne den Blick von der Landschaft abzuwenden. »Das ist doch gut. Dann bist du offen für eine neue Sichtweise.«
»Klingt gut, aber so läuft es nicht. Zunächst einmal fühlt es sich schlecht an. Du bist verwirrt. Du hast das Gefühl, du gibst diesen Komplizinnen nur eine Bühne, auf der sie sich ihre Geschichten zurechtbiegen können. Du hast Angst, dass sie dich manipulieren. Und das versuchen sie auch. Womöglich hilfst du ihnen nur dabei, sich selbst besser zu ertragen. Dann wieder fragst du dich, ob nicht du es bist, die sie benutzt.«
Marie weiß, dass Mella begreift, wovon sie spricht. Mella weiß, wie es ist, mit Unausgesprochenem zu leben. Vielleicht hat sie eine andere Lösung gefunden. Vielleicht hat sie es aufgegeben danach zu suchen.
Ein uniformiertes Mädchen serviert mit den üblichen Verbeugungen Tee. Die anderen Passagiere unterhalten sich gedämpft, viele schlafen, einige lesen. Überall in den öffentlichen Verkehrsmitteln wird die große Müdigkeit sichtbar. In der japanischen Sprache gebe es viele Wörter für Schlaf, hat ihnen Yokui erklärt.
Die Bücher sind hier von der anderen Seite her aufzuschlagen. Kinder starren auf ihre Computerspiele, deren Pieptöne sich in das zikadenhafte Summen der Klimaanlage mischen, darunter das dumpfe Vibrieren des Zugs. Das Fensterglas ist entspiegelt und überzieht alles mit einem bläulichen Hauch. Linkerhand zeigt sich das Meer, eine stahlgraue, amorphe Fläche. Der Bahnhof von Kyoto begeistert sie beide: Pure Weite, durch die gewölbte Glas- und Gitterstruktur des Daches erschaffen und begrenzt zugleich. Yokui hat den Bahnhof des berühmten Architekten Hiroshi Hara erwähnt, der bei seiner Eröffnung vor zehn Jahren sehr kontrovers diskutiert worden sei.
»Lass uns doch noch hier bleiben«, meint Mella, »es soll hier einen schönen Terrassengarten geben.« Zu beiden Seiten der Central Area führen Rolltreppen und Stiegen zu den oberen Etagen. Das Zentrum wird als »Teich« bezeichnet, die beiden Gebäude zu seinen Seiten als »Berge«. Der Garten liegt am Ende einer Reihe von breiten Stufen. Das Rascheln der Bambusblätter klingt wie Geflüster, die dickeren Stangen in der Mitte schlagen mit einem leisen Klicken aneinander. Die beiden Frauen wandern die Terrassenfläche entlang, von der aus man einen weiten Rundblick hat. An mehreren Stellen die markant geschwungenen Dächer von Tempelanlagen. Irgendwelche üppig in Rosa und Gelb blühende Gebüsche, die sie durch die Glasflächen draußen vor der Haupthalle gesehen haben, wehen einen an Gummibären erinnernden Duft bis hier herauf.
Ohne Übergang sagt Marie: »Also, Mella, warum damals diese Geschichte mit Werner? Erklär es mir!«
Wie überraschend leicht es ist, wenn man endlich ausspricht, was man gefürchtet hat. Es ist zweiundzwanzig Jahre her, und Werner ist längst aus ihrer beider Leben verschwunden. Dennoch nickt Mella, als hätte sie ohnehin die ganze Zeit auf diese Frage gewartet. Sie schlingt die Arme um die Knie, schaut in die Stadt hinunter.
»Ich hatte damals das Gefühl ein Recht darauf zu haben«, sagt sie nach einer Weile. Die Sache mit Werner hat etwas wieder ins Lot gebracht, so habe ich es empfunden.«
»Etwas zwischen uns?«
»Ich erwarte nicht, dass du es verstehst.« Mella redet leise, aber ohne zu stocken. Nur ihr mehrfaches Räuspern verrät ihre Anspannung. »Es muss sich schrecklich für dich anhören.«
»Ich weiß es noch nicht. Sprich einfach weiter.«
»Ich hätte Nein sagen können. Ich erinnere mich genau an zwei oder drei Situationen, in denen ich anders hätte reagieren können. Aber ich habe es nicht getan. Es – es hat mir gut getan. Auch das Gefühl, dass es verboten war.« Mellas Blick verliert sich irgendwo. Keinerlei Variante von »Ich konnte eben nicht anders.«
»Was meinst du damit, du dachtest, du hättest ein Recht darauf gehabt?«, fragt Marie.
Mella wickelt ihr Tuch ums Handgelenk, löst es wieder, wickelt von Neuem auf.
»Die Bücher, erinnerst du dich noch? Cordulas Tagebücher? Ich wollte, dass du sie mit mir liest.«

Besprechung auf Radio Fritz



Wie schon in ihren anderen Romanen erkundet Gudrun Seidenauer auch in ihrem neuen Buch die Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens und Sprechens. (...) Diesmal gilt ihr Interesse dem Spracherwerb der beiden Mädchen und damit verbunden ihrer Identitätsfindung. Sie entdecken ihre Gefühle, ihren Körper, ihre Sinnlichkeit und sie haben Angst vor den Dingen, die sie nicht benennen können. Mella und Marie üben, der Welt ihren Blick entgegenzusetzen, sie träumen von der Zukunft, der Sommer nach der Matura sollte der Sommer ihres Lebens werden. Gudrun Seidenauer zeigt, wie sich langsam das Ungesagte und das Unsagbare zwischen die beiden Protagonistinnen schiebt, bis sich ihre Wege trennen und sie einander erst nach neunzehn Jahren bei einer Konferenz in Tokyo wieder begegnen. (...) Gudrun Seidenauer gelingt in ihrem neuen Roman ein eindrucksvolles Plädoyer für das Gespräch - und sie zeigt gleichzeitig, dass es nicht immer möglich ist, über alles zu sprechen.
(DIE FURCHE, Christa Gürtler, November 2018)



Mit vielen Details erzählt dieser Roman davon, wie man die beste Freundin lieben und brauchen und dennoch verpassen und verletzen kann. Manchmal ist die Beziehung der beiden so innig wie eine Liebesbeziehung. (...) Das Handeln der beiden Figuren wird nachvollziehbar geschildert, man kann Empathie mit der "schwachen" Marie haben, die sich gegenüber der "starken" Mella behaupten will, aber auch mit der unnahbaren Mella, die nach außen hin zwar stark, aber letztlich genauso verletzlich und abhängig von der Bewunderung ihrer Freundin ist. (...) "Was wir einander nicht erzählten" ist die spannende Chronologie einer innigen und gleichzeitig toxischen Freundschaft - mit Machtkämpfen, Vertrauensbrüchen, Neid und der Frage, ob und was man verzeihen kann.

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