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Revisited 10
Mit einem Nachwort von Günther Stocker
Aus dem Englischen übersetzt von Georg Goyert
284 Seiten, Hardcover
€ 20.00
ISBN 978-3-85286-228-6
Die Puppen von Poshansk
»Die Puppen von Poshansk« packend, bitterböse und 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung endlich wieder zugänglich gemacht!
In dieser bitterbösen Satire auf den Kalten Krieg tummeln sich im sibirischen Poshansk verzweifelte amerikanische Präsidentschaftskandidaten, sexsüchtige Stalinistinnen und brutale Nazischergen. Währenddessen proben unbeugsame Gulaghäftlinge den Aufstand gegen Stalin. Die Stunden der Diktatur scheinen gezählt.
Sibirische Goldbergwerke und Gulags bilden die Kulisse dieses 1952 erstmals veröffentlichten tragikomischen Romans, in dem das Grauen längst zum Normalzustand geworden ist. Neumann, Großmeister der literarischen Satire, erzählt die Geschichte des abgehalfterten US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Walter Mayflower Watkins, der sich von seiner Good-Will-Reise durch die UdSSR politischen Aufwind verspricht. In Poshansk trifft er auf den Trotzkisten Toboggen, der aus der lebenslänglichen Verbannung hervorgeholt wurde, um die Greuelmärchen über Massenliquidierungen in der UdSSR zu widerlegen. Watkins verliert den eigentlichen Grund seiner Reise aus den Augen, verliebt sich in Ursula Toboggena, eine linientreue Dolmetscherin, und erkennt nicht, dass er durch eine Welt der Zwangsarbeitslager reist. Alle von Neumann in Poshansk versammelten Figuren – wie der Trotzkist Toboggen, dessen stalinistische Tochter, ein aus deutschen KZs geflüchteter Jude, amerikanische Finanzhyänen, ein Nazihenker, der sich in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft als Spitzel angebiedert hat– sind wie Watkins selbst nichts anderes als Marionetten der politischen Systeme Kapitalismus und Kommunismus.
Auf das Signal hin verließen zwei kräftige, kurzbeinige, breitbrüstige Männer die Vorhalle des Hotels, eines zweistöckigen Holzhauses mit sechs Fenstern an der Frontseite. Sie sahen aus wie Brüder, wahrscheinlich Zwillingsbrüder. Sie trugen die Stangen des aufgerollten Spruchbandes zwischen sich und liefen so schnell, wie ihre hohen Gummistiefel es gestatteten. Während sie über die kurze Treppe vom Stalin-Boulevard in den nassen Lehm kletterten, fielen beide hin, standen aber gleich, wenn auch mit einiger Mühe, wieder auf und eilten, beschmutzt, schwerfüßig den kurzen, schlüpfrigen Hang hinab, der später einmal Volksgarten für Erholung und Kultur sein soll. Sie eilten nach dem Bahnhof, einem langen, niedrigen Holzschuppen; er soll nach dem nächsten Fünfjahresplan in Stein ausgeführt werden. Schwer keuchend blieben sie oberhalb des Eingangs stehen und entfalteten das Spruchband. Auf ihm stand: »Wir begrüßen die Vereinigten Staaten von Amerika.«
In demselben Augenblick verließ Genosse Gorbakov, der Verwalter der Staprodisc-Lebensmittelverteilungsstelle, seinen Laden und begann zu winken. Oberschwester Probinkova, die am Fenster im ersten Stock des gegenüberliegenden Krankenhauses stand (es wird erst dann ein Krankenhaus sein, wenn man einen Arzt dafür gefunden hat), die Oberschwester also, die nur den Laden, aber nicht den Abhang sehen konnte, führte daraufhin die zwölf Patienten hinaus auf das Dach. Alle trugen Papierfähnchen. Die einunddreißig Schulkinder standen unterdessen draußen, geführt von dem Lehrer und Kulturbeauftragten Leibovich. Holobenko von der Presse war krank, und so brachte Ninotchka Holobenko die große Portrait-Kamera und das Stativ an die günstigste Stelle, d. h. dahin, wo sie aus dem Lehm die Stufen hinaufkommen mußten. Inzwischen hatten sich auf dem Stalin-Boulevard mindestens hundert Menschen versammelt. Sie drängten sich vor dem Hotel und winkten. Sechs Soldaten von der Truppe des Innenamts hielten sie zurück, um einen Durchgang von den Stufen des Bahnhofs bis zum Hoteleingang freizuhalten.
Die Tür wurde aufgestoßen. Ein hagerer, junger Mann eilte nach draußen. Er war glutäugig und blaß. Er trug noch die alte gesteppte Kapok-Jacke, die man ihm im Lager als Sommerkleidung gegeben hatte, aber er hatte schon ein paar Winterstiefel an, die wohl sein Privateigentum waren. Hinter ihm her, in sechs Fuß Entfernung, stürzte ein Wachtmann, hielt in beiden Händen das gesenkte Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett. Der junge Mann eilte weiter, in seiner schlankfingrigen, hageren Hand einen Lautsprecher haltend. An dem Schutzgeländer machte er Halt. Der Wachtposten mit dem Bajonett stand hinter ihm. Durch sein Megaphon dröhnte er über das, was später der Volksgarten werden soll, und die beiden Spruchbandträger hinweg, die halbwegs unten im Lehm standen, in englischer Sprache: »Die Bewohner von Poshansk entbieten Herrn Watkins ihren Gruß.«
Dann riß Borodin das Doppelfenster des Empfangszimmers oben im Hotel auf. Man konnte sehen, daß er seinen gewaltigen Genießerleib in seine Galauniform als Hauptmann der Staatspolizei, Militär-Abteilung, gezwängt hatte. Er rief: »Das Ganze halt!«
Das Fenster wurde geschlossen. Die zwei Männer im Volksgarten rollten das Spruchband zusammen und arbeiteten sich keuchend zurück durch den Lehm. Der Verwalter des Staprodisc verschwand im Laden und verkaufte dem Leiter des Amts für Straßenbau eine amerikanische Büchse Konserven aus dem Leih- und Pachtvertrag. Die Krankenhausmagd, die die Gefangenen versorgte, näherte sich Oberschwester Probinkova, meldete, daß Nr. 428 inzwischen gestorben wäre, und alle verschwanden im Innern des Hauses. Die Menschen auf dem Stalin-Boulevard gingen auseinander. Nur der junge Mann mit dem Megaphon stand noch einen Augenblick müßig an dem Geländer und blickte um sich.
Dicht unter ihm, am Ende des kurzen Hanges, war der Bahnhof. Er war verlassen. Jenseits von ihm, nach links, dehnte sich die schlammige Ebene drei bis vier Meilen bis zu den Hügeln, dem wogenden Horizont des Kolymalandes mit Lärchen und roten und violetten Flecken aus Feuerkraut, das schon verwelkte, denn an diesem Augusttag war der Sommer fast vorbei. Dort hatte man Gold gefunden. Von dort kam der kleine Fluß, der im Lehm und Sumpf der Küstenebene fast erstickte. Dort, wohin das Auge des jungen Mannes nicht mehr reichte, speiste er einen Teich, auf dem im Sommer ein kleines Wasserflugzeug oder im Winter ein Flugzeug mit Skiern niedergehen konnte. Den Teich verlassend, kroch der Fluß um den Hügel mit dem Kirchspiel nach dem ochotskischen Meer, das keine drei Meilen entfernt war, eine graue, melancholische, endlose Wüste, die in ein paar Wochen zufror und acht Monate lang gefroren blieb, bis nach der Halbinsel Kamchatka und nach Süden bis nach der schönen, warmen Stadt Wladiwostok, wo das Meer nur vier von zwölf Monaten vom Packeis blockiert war.
Vor sieben Jahren hatten die Genossen Geologen in diesem Bezirk der großen Wälder Gold gefunden. Vor fünf Jahren ging das erste Schiff von Magadan, halbwegs oberhalb von Wladiwostok, in See, und man hatte die wenigen Meilen in das Innere des Landes hinter sich gebracht. Der Kopfbahnhof war drei Jahre alt. Das war auch die Stadt. Der Stalin-Boulevard hatte vierzehn Häuser, Hotel und Krankenhaus eingeschlossen. Man sah auch fünf Nebengassen rechts und vier Nebengassen links. Das Lager war nicht sichtbar, es lag im Sumpf, jenseits des Flusses.
»Zurück«, sagte der Soldat hinter dem jungen Mann, der sich schnell umwandte. Das Bajonett zeigte jetzt auf seine Brust. Der große, schinkengesichtige Mann fuhr fort: »Zurück ins Hotel. Dalli!«
Der junge Mann sagte: »Lassen Sie mich in Ruh. Ich muß noch zwei Kunden rasieren.«
»Dalli!« sagte der Soldat. Er kam mit dem Bajonett näher.
Der junge Mann schrie ihn an: »Wissen Sie nicht, daß ich entlassen bin? Seit vier Wochen bin ich ein freier Mann. Wissen Sie nicht, daß Genosse Kommandant Borodin mich beauftragt hat, in einer fremden Sprache zu sprechen? Wissen Sie nicht, was Ihnen passiert, wenn ich ihm berichte, daß Sie den Genossen belästigen, der die Amerikaner begrüßen soll? In Scheiben schneidet er Sie, in dünne Scheiben wie eine Wurst – wenn’s hier so etwas wie Wurst gäbe.«
Der Mann machte ein dummes Gesicht, aber er senkte das Bajonett nicht.
Bleich vor Erschöpfung nach der Anstrengung sagte der junge Mann hochmütig: »Ich werde jetzt Seine Exzellenz, den Leiter des Gesundheitswesens, rasieren.«
Er wandte sich um. Plötzlich begann er zu zittern.
Der Posten trottete zu dem Hotel zurück.
Der Verwalter des Staprodisc hatte die Büchse Konserven und einen Krug allerbesten amerikanischen Öls gegen die Wirkungen des Senfgases verkauft, das, wie die Genossen Wissenschaftler in Moskau festgestellt hatten, auch gegen Läuse half. Durch das Krankenhaustor kamen vier Gefangene und ein Posten mit Gewehr und Bajonett mit dem schwarzen Handkarren, auf dem die Reste des gestorbenen Gefangenen Nr. 428, eines Kontrik oder trotzkistischen Gegenrevolutionärs, lagen, und bogen in die Gorkistraße ein. Da lag er nun, Haut und Knochen, nackt unter den schwarzen Lumpen, während Kopf und linkes Bein über den Karrenrand baumelten und eine Million Fliegen schon seine Leiche umschwirrten, denn es war noch Sommer, und doch konnte der Frost über Nacht über den Sumpf herfallen, da war es schon besser, ihn schnell in die Erde zu bringen. Hinter dem Fenster im Erdgeschoß der Schule sah man die Hilfslehrerin Tamara Varbarova und die Köpfe einiger Yakut-Kinder aus dem Dorf. Im Chor buchstabierten sie von der Tafel:
»H-e-r-r
U-n-s-e-r H-e-r-r
U-n-s-e-r H-e-r-r
S-t-a-l-i-n.«
Auf dem Platz der Oktober-Revolution stand eine ältliche Frau, eine aufgeputzte Schlampe, die hier fremd wirkte. Sie war die siebente der sieben Frauen, die an diesem Morgen aus dem Lager entlassen worden waren. Die sechs anderen waren sofort mitgenommen worden. Müßig stand sie da, betrachtete zwei Hunde, die sich füreinander interessierten. Hinter dem Kultinst oder Kultur-Institut bewachten vier Polizeisoldaten mit Tommy-Guns den Lastkraftwagen des Unterdistrikts-Kommissars Attona, der über die neue Straße, zweihundert Meilen von Kamenskoe, hierher gekommen war.
Das Buch beweist aufs Neue, dass die österreichische Literatur der 1950er Jahre sehr viel vielschichtiger ist, als man mit Blick auf die kulturelle und politische Situation im Nachkriegsösterreich vermuten würde.
Bernhard Fetz, Ö1