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354 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband
€ 25.00
ISBN 978-3-903184-88-6
Pitt und Fox
Die Entwicklungsgeschichte der ungleichen Brüder Pitt und Fox Sintrup veranschaulicht mit feiner Ironie die späte Bürgerwelt zwischen Karriere und Dekadenz um 1900. Der erfolgreichste Roman Friedrich Huchs ist eine Art Mischung aus „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ und „Der Mann ohne Eigenschaften“.
„Es wird uns“, so heißt es in Friedrich Huchs Selbstrezension zu „Pitt und Fox“, „die Jugend- und Jünglingsgeschichte zweier ungleicher Brüder und Fabrikantensöhne aus gutem Bürgerhaus erzählt, die für beide in einer Heirat endet. Der Roman konfrontiert zwei Lebenshaltungen miteinander: Pitt, eine „vornehme, feingeistige Hamletnatur“, ist ein stiller, in sich gekehrter junger Mensch, sein Bruder Fox ein optimistischer Draufgänger mit beschränkten geistigen Gaben, die er jedoch nutzbringend anzuwenden weiß.
Fox, Sprössling und künftiger Repräsentant des deutschen Großbürgertums der Jahrhundertwende, vertritt die neue, heraufkommende Schicht skrupelloser und erfolgstüchtiger Geschäftsleute, die sich mit passenden Lebenslügen über den von ihnen beförderten Zerfall aller moralischen Werte hinwegsetzen. Ein Karrierist modernen Zuschnitts.
Die ganze Luft des Fin de siècle, mit einem Schuss Weltmüdigkeit und einem Schuss Bohème, weht einen an aus diesem heiter-schmerzlichen Roman, dem Meisterwerk des früh verstorbenen Dichters aus dem Münchner Schwabingkreis, des Cousins von Ricarda Huch. Anhand der Wege und Abwege der beiden ungleichen Brüder, im Reich der Studentenbude, des Schmierentheaters, der Redaktionsstube, veranschaulicht Huch mit tiefer Psychologie und feiner Ironie die späte Bürgerwelt zwischen Karriere und Dekadenz um die vorletzte Jahrhundertwende.
Die schlichte, unprätentiöse Sprache des Buches hat immer wieder den Vergleich mit der Prosa Goethes und Kellers herausgefordert. Thomas Mann gab an, Friedrich Huch sei ihm erschienen als „ein führender Verkünder jenes neuen Humanismus, dessen Heraufkunft wir fühlen“.
Der Roman erschien erstmals 1909.
PITT – SO NANNTE PHILIPP SINTRUP sein Spiegelbild, als er es als kleines Kind zum ersten Mal erblickte und mit dem Finger berührte. Die Familie heftete den Namen an ihn, und mit einer Art von Folgerichtigkeit ward nun sein jüngerer Bruder nur noch Fox gerufen. Pitt war es gleichgültig, wie er hieß. Fox dagegen wehrte sich gegen den ihm aufgehängten Namen, ohne dass er ihn vertreiben konnte. So behauptete er denn, als er in das Alter kam, wo man moderne Weltgeschichte lernt, ein Nachkomme des großen, bekannten Fox wäre sein Pate, und seinen gewaltigen Reichtum werde er einmal erben.
Schon früh begann Fox Großes von sich zu erzählen. Er stellte sich als den Helden von selbst erfundenen Geschichten hin, die er Märchen nannte, die aber außer ihrer Unmöglichkeit nichts Märchenhaftes an sich hatten, sondern der allernächsten Umgebung entnommen waren und nur in einem Tone vorgetragen wurden, der Grausen erregen sollte. – Der grauäugige, etwas hochgeschossene Pitt hörte sie mit gelangweilten Augen an, und wenn Fox geendet, erzählte er mit gleichmäßiger Stimme: Ihm sei Ähnliches begegnet, nur sei alles umgekehrt gewesen; vor seinen Feinden habe er, anstatt sie anzugreifen, sich versteckt, indem er sich bewegungslos gegen den Zaun drückte, sodass sie ihn für einen Holzpfahl hielten. Während unter seines Bruders Tritten die dicksten Brückenbalken krachten, genügte ihm ein Strohhalm, sich seinen Verfolgern über das Wasser hin zu entziehen. Unter diesen befanden sich ganz unbesehen seine nächsten Verwandten, seine eigenen Eltern. Herr Sintrup zog an ihrer Spitze, und Frau Sintrup, Pitts Mutter, sonnte sich im Eingang einer Höhle, ohne sich zu bewegen, sodass er nicht an ihr vorbeikonnte, um sich ein für alle Mal zurückzuziehen. Wurde Fox am Ende seiner Erzählungen König, so verscholl Pitt am Schlusse ganz und gar und wusste selbst nicht, wo er blieb. – In solchen Augenblicken schwelgte Fox im Gefühle seiner eingebildeten Stärke. Herr Sintrup aber sagte: Aus dir wird mal was Großes! Aber du, Pitt, kannst dich nur gleich begraben lassen. – Dann zog Pitt unbemerkt ein Taschenbüchlein hervor, suchte eine bestimmte Seite und machte einen Bleistiftstrich. Sein Vater und seine Mutter sagten stets dasselbe, und er führte darüber eine Art Statistik.
Herr Sintrup war ein rühriger, geachteter Fabrikant in dem kleinen Städtchen. Pünktlich mit dem Glockenschlag war er zumeist im Bureau und schnauzte seinen Angestellten ein gutmütiges »Guten Morgen« zu. Nur manchmal kam es vor, dass er im Bett länger liegen blieb, denn ab und zu liebte er einen »guten Tropfen«, wie er das nannte. Bekam er einen neuen Lehrling, so stellte er ihn vor sich hin, durchbohrte ihn mit seinen Augen und sagte in
schrecklich drohendem Ton: Bengel, Bengel, ich sage dir …! Im Grunde aber war er gutmütig und leicht gerührt.
Fox fühlte sich in seiner Haut sehr wohl; den Dienstboten gegenüber tat er, als sei er eigentlich eine Art von Kronprinz; seine Mutter hatte er ganz in der Gewalt, sie verwöhnte ihn und gab ihm in allem seinen Willen, umso mehr, als Pitt ihr nicht im Wege war, der nie um etwas bat und mit einem stereotypen Danke alles in Empfang nahm, mochte es nun Gutes oder Geringwertiges sein. Pitt erschien wie ein verschlossenes, etwas impertinentes Waisenkind, das trotz aller jahrelangen Gewöhnung niemals recht häuslich wird in dem Kreise seiner Pflegeeltern. Die Namen seiner nächsten Verwandten konnte er nicht auseinanderhalten. Manchmal musste er sich erst besinnen, wo das Esszimmer, wo die Wohnstube lag. Genauso fremd lebte er in der Schule. Seinen Kameraden gegenüber hatte er einen leise überlegenen, ironischen Ton, feiner oder plumper, je nachdem er es für angemessen hielt. Wirkliche Freundschaften kannte er nicht. Er litt darunter, konnte es aber nicht ändern. Einmal schloss er sich an eine gleichaltrige Kusine an; aber das Mädchen wurde so gefühlvoll, ihm war, als spielten sie Theater; und als sie ihn eines Tages wie gewöhnlich besuchen wollte, fand sie seine Tür verschlossen, und er rief ihr durchs Schlüsselloch zu, es sei aus zwischen ihnen, er wolle sie nie wiedersehen. Als er dann später einmal ein tragisch auf ihn gerichtetes Gesicht erblickte, musste er sich erst besinnen, wer das war. Fox unterhielt Freundschaften mit Mädchen, die viel jünger waren als er selbst; er verlachte Knaben, die mit gleichaltrigen oder älteren gingen: Das hat doch gar keinen Sinn! Die kann man ja später doch nicht heiraten! Ein Mann muss doch immer älter sein als die Frau! – Trotz dieser massiven Untergründe wechselte er seine Liebe ziemlich oft.
Das liest sich in einem Rutsch: „Die Liebeswege der Brüder Sintrup“. Pitt, melancholischer Hamlet, gemütsverwandt irgendwie mit Gontscharows „Oblomov“, und Bruder Fox, Spielernatur der Gattung Felix Krull. Die Fabrikanten-Söhne nehmen sich viel Zeit fürs Studium – und fürs andere Geschlecht. Ergebnis: aufwühlende Gefühle, ungewollte Schwangerschaft, emanzipierter weiblicher Rückzug und gar Beziehungswechsel von Pitt zu Fox – mit brüderlichem Einverständnis.
Am Ende finden alle den gebührenden Partner. Friedrich Huch (1873–1913) trifft mit psychologischem Gespür und feiner Ironie die Atmosphäre des Fin de siècle zwischen rücksichtslosem bürgerlichem Geschäftssinn und Dekadenz. Bei Huchs uneitel klarem Stil wirkt dieser Roman von 1909 keineswegs aus der Zeit gefallen – und wurde deshalb zu Recht nachgedruckt. Bewertung: 5 Sterne
Münchner Merkur August 2022