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304 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband
€ 24.50
ISBN 978-3-903184-98-5
Die Sackgasse
1947 erschien das Romandebüt „Die Sackgasse“ der damals 24-jährigen Vera Ferra, die kurze Zeit später als Vera Ferra-Mikura als Kinder- und Jugendbuchautorin berühmt werden sollte. Die wichtigsten Literaturvermittler der Nachkriegsjahre, etwa Hans Weigel, Rudolf Felmayr oder Otto Basil, hielten sie für eine der originellsten Schriftstellerinnen ihrer Generation.
Ohne die Stadt und die Zeit, in der der Roman spielt, explizit zu nennen, erzählt Vera Ferra die Geschichte der Familie Kleist, die unter ärmlichen Bedingungen in einem Zinshaus am Ende einer Sackgasse lebt. Auf engstem Raum wohnt die Witwe Kleist mit dem Sohn Rupert und den Töchtern Luise und Fanny. Während die Kinder Wege aus der Armut suchen, verzweifelt die Mutter zunehmend an der Unüberwindlichkeit des sozialen Milieus und der geringen Aussicht auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage.
Unausgesprochen wird klar, dass der Roman im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit spielt und das Haus in der Sackgasse eine Metapher für die Situation Österreichs nach 1945 ist. Die Hausgemeinschaft funktioniert noch immer wie ein Spitzelstaat, in dem willkürliche Anschuldigungen katastrophale Folgen für einzelne Bewohner haben können. Normabweichungen wie etwa ein Schwangerschaftsabbruch werden gesellschaftlich gnadenlos sanktioniert. Neue alte Heilsversprecher versuchen die Jugend wieder zu locken, um sie einer Ideologie zu unterwerfen.
Der Flur war heller erleuchtet als sonst. Aus den offenen Wohnungstüren strömte Licht auf den Gang. Frau Kubin stand, umringt von mehreren heftig auf sie einsprechenden alten Frauen in einer Fensternische, ihr Mann lehnte an dem Türpfosten und blickte mit trüben Augen zu ihr hinüber.
Rupert hörte erregtes Stimmengewirr, als er die Haustüre öffnete. Erstaunt musterte er im Vorübergehen die groteske Gruppe, aus der Frau Kubin wie ein Wachtturm emporragte.
Kaum hatten die Frauen Rupert erkannt, starrten sie ihn wie erschreckte Vögel an und verstummten.
Rupert Kleist grüßte. Sie bewegten die Lippen, aber ihr Gegengruß war nur ein heiseres, widerlich geheimnisvolles Murmeln.
Auch im oberen Stockwerk standen Leute beisammen. Der Schuhmacher Jahn deutete auf Rupert und rief: »Da ist er ja. Frau Kleist, er ist schon gekommen.« Er trommelte an die Wohnungstür. Die Mutter blickte verstört heraus.
»Rupert, komm –« Sie hielt ein Taschentuch krampfhaft zwischen den Fingern. Der Sohn zögerte und sah sie verwundert an.
»So komm doch, du weißt ja nicht, was du angerichtet hast.«
Die Küche war von Leuten erfüllt. Fanny saß auf der Wäschekiste, Luise lehnte an der Anrichte. Die Stühle waren von Nachbarinnen besetzt. Die alte Frau Toifl hatte ihren verstaubt aussehenden Hund mitgebracht. Er hockte neben ihr und rieb seine Schnauze an ihrer Hand, die sie ihm willig überließ.
Fanny war die Einzige, die Rupert mit einem Lächeln empfing. Sie zog ihn sanft aus der Küche, trotzdem die Mutter mit aller Kraft ihrer Stimme um seine Anwesenheit kämpfte.
»Herr Lupe ist tot!«, sagte Fanny, die Tür zuhaltend.
»Das tut mir leid, ich, ich glaube, dass er noch gar nicht sehr alt war.«
Es klopfte. Luise schob den Kopf durch den Türspalt.
»Mich könnt ihr hereinlassen«, sagte sie mit Nachdruck. »Was sagst du, Rupert, welch seltener Verbrecher du bist.«
»Ich verstehe nicht, was ihr alle habt«, brummte er. »Das ganze Haus ist durcheinander.«
Luise setzte sich auf ihr Bett. Sie schien die Situation amüsant zu finden.
»Du hast heute einen Mord begangen!«
»Bist du wahnsinnig?«
»Nicht ich, Rupert. Aber die lieben Leute, die mit uns unter demselben Dach wohnen. Und die Mutter hat dir die ganze Suppe eingebrockt. Sie erzählte die Salzgeschichte jedem, der sie hören wollte. Kein Mensch hätte etwas geahnt, wenn sie weniger gesprächig wäre.«
»Du stellst alles so krass und hässlich dar, Luise«, mischte sich Fanny ein. »Lass mich reden.«
»Eigentlich habe ich das Vorrecht, weil ich in die Sache selbst verwickelt bin«, wehrte sich die Jüngere. »Du hättest also Herrn Lupe das Salz, das Mutter ihm schuldig war, mittags hinauftragen sollen. Du hast dich geweigert, folglich musste ich es tun. Ich kam aber erst am späten Nachmittag dazu. Herr Lupe machte die Tür nicht auf. Ich klopfte, und plötzlich spürte ich starken Gasgeruch. Herr Rubin hat die Tür aufgebrochen. Es war schon zu spät. Vielleicht hätte Herr Lupe wirklich noch gerettet werden können, wenn du mittags hinaufgegangen wärst. Aber wer kann das genau sagen?«
Die Mutter riss die Tür auf. »Warum schließt ihr euch ein?«, fragte sie weinerlich.
Die Nachbarinnen saßen noch immer unter der Zuglampe und redeten.
»Kommen Sie doch heraus, Herr Kleist!«, sagte Frau Toifl. »Wir sind ja nicht hier, um Ihnen Vorwürfe zu machen. Ihre Mutter hat uns von Ihrem Unglück erzählt – aber es wird Ihnen kein Mensch etwas nachsagen. Es ist alles nur ein schrecklicher Zufall!«
»Ja«, stimmte ihr die zweite Frau eifrig zu, »wir werden der jungen Lupe kein Wort erzählen, dass ihr Vater vielleicht noch lebte, wenn –«, sie schluckte, »– nun, Sie wissen schon. Ach, das ist wirklich traurig.«
»Herr Lupe hat eine Tochter?«, fragte Frau Anderweit. Sie kaute angeregt an einem ihrer vom Nähen zerstochenen Finger. »Ich habe sie noch nie gesehen.« Es schien ihr unverständlich, dass man sie von der Existenz des Fräuleins noch nicht unterrichtet hatte, obwohl sie schon ein halbes Jahr in diesem Hause wohnte.
»Ja, sie ist Erzieherin in einem Kinderheim in der Provinz. Herr Kubin wird sie telegraphisch verständigen.« Frau Toifl blickte
Rupert mit ihren rot geränderten Augen treuherzig an. »Mein Gott, wie grausam das Leben ist! Aber Ihnen, Herr Kleist, wird niemand in gehässiger Weise nahetreten, obwohl wir alles wissen. Wenn Sie etwas anderes erwartet haben, schätzen Sie uns falsch ein!
»Außerdem geht uns die ganze Sache nichts an«, bemerkte Frau Anderweit bescheiden.
»Ganz richtig! Wir kümmern uns auch nicht näher darum. Jeder Mensch hat so viele eigene Sorgen. Aber Sie sollen wissen, dass wir Sie bedauern, Herr Kleist, Ihre Lage ist so peinlich.« Frau Toifl zog den Hund zärtlich an ihr dürres, von einem faltigen Strickstrumpf überzogenes Bein. »Ja, ja«, setzte sie nach einem tiefen Atemzug hinzu, »aber wir halten zu Ihnen. Ihr Missgeschick ist zu groß, man muss Ihnen helfen, darüber hinwegzukommen –«
Rupert schloss die Augen. Was sagten diese grauen Hyänen? Sie fühlten sich ungemein wohl in der Rolle der Verzeihenden, der Milden, der Rücksichtsvollen.
»Ist dir schlecht?«, fragte die Mutter ängstlich. Sie füllte ein Glas mit abgestandenem Wasser aus dem Tonkrug und reichte es ihrem Sohn mit einer fast demütigen Gebärde.
Er nahm es und schleuderte es an die Wand.
Die Nachbarinnen sprangen auf, bleich und verstört. Sie hasteten zur Tür, emsig ihre nass gewordenen Kleider glättend.
Rupert schaute ihnen nach. Seine grauen Augen blickten leer und zeigten weder Zorn noch Reue, aber sein Mund war von Ekel verzerrt und stand schief in seinem schmalen Gesicht.
»Oh, oh«, stöhnte Frau Toifl und zog die Tür hinter sich zu. »Er ist verrückt geworden.«
»Bravo, Rupert!«, sagte Luise und legte die Hand auf den Arm des Bruders. »Diese grässlichen Eulen hast du auf ewig hinausbefördert.«
Er erwiderte nichts, streifte jäh ihre Hand ab und wandte sich der Mutter zu. Frau Kleist lehnte an der Wand, zitternd, fassungslos, das Taschentuch an den Mund pressend.
Sekundenlang fühlte er Mitleid mit ihr. Doch seine Empörung war stärker. »Du hast die Leute auf mich losgelassen, mich als den unfolgsamen Sohn hingestellt, der durch eine Lausbüberei ein Leben auf dem Gewissen hat. Was erwartest du nun von mir?«
»Ich weiß, dass du brutal bist, ärger, als der Vater es war«, sagte die Mutter rau.
»Haben dich diese vier Mauern schon so armselig gemacht, dass du jede Sensation ergreifen musst, nur um von Tür zu Tür hausieren zu können? Du hast keinen Augenblick an mich gedacht, sondern nur an die aufgerissenen Mäuler der Hausleute. Oh, es wäre ein großer Verlust für dich gewesen, wenn du auf diesen Tratsch hättest verzichten müssen. Was gilt dir schon die Rücksicht auf meinen Namen? Nichts, überhaupt nichts! Wie viel mehr bedeutete es für dich, dass du flüstern konntest: ›Denken Sie, wenn mein Sohn mir gefolgt hätte, würde Herr Lupe noch leben! Ja, die Schale Salz, die er mir vor ein paar Tagen borgte, hätte sein Leben retten können, aber unglücklicherweise hatte mein Sohn nicht Lust, sie ihm hinaufzutragen!‹ – So war es doch?« Er trat nahe an die Mutter heran und schrie: »Du hast mich wissentlich ruiniert und erwartest sogar noch eine Entschuldigung von mir!«
»Fanny, hilf mir, ich kann mich nicht verteidigen, ich bin zu schwach, zu armselig, zu –« Das Gesicht der frühzeitig gealterten Frau verzog sich zum Weinen, es sah erbarmungswürdig und grau aus.
Das Mädchen stand unschlüssig da, zwischen der Mutter und Rupert schwankend.
»Es ist bitter für euch beide«, sagte es endlich und bückte sich, die Scherben des Wasserglases aufzuheben.
„Die Sackgasse“ von Vera Ferra-Mikura: Die verlorene Generation nach dem Krieg
Seit geraumer Zeit erscheinen im Wiener Milena Verlag Kleinode nicht nur der österreichischen Literatur – vom Literaturbetrieb meist verdrängte oder aus unterschiedlichsten Gründen vergessene Bücher vorwiegend von Frauen. Hertha Pauli, Else Feldmann oder Annemarie Selinko seien hier genannt, aber auch bis dahin nicht mehr aufgelegte Werke von Otto Basil oder Friedrich Torberg. Eine Wiederentdeckung stellt auch „Die Sackgasse“ von Vera Ferra-Mikura dar. An deren „Stanisläuse“ mögen sich Leserinnen und Leser noch erinnern; dass die Karriere der Verfasserin von zweiunddreißig Jugendbüchern mit einem „Roman für Erwachsene“ begann, war bislang kaum bekannt.
Die Wienerin Vera Ferra-Mikura (1923–1997) arbeitete nach dem Abschluss der Hauptschule zunächst in der Vogelhandlung ihrer Eltern, später in einem Warenhaus, während des Zweiten Weltkriegs war sie Stenotypistin in einem Architekturbüro. Als Lyrikerin entdeckt wurde Vera Ferra von Otto Basil, der ihre vor 1945 entstandenen Gedichte erstmals in der legendären Zeitschrift Plan publizierte; 1946 wurde sie Mitarbeiterin in Wolfgang Schafflers „Festungsverlag“, wo auch ihre ersten Märchenbücher und „Die Sackgasse“ erschienen. Ab 1948 lebte Ferra-Mikura als freie Schriftstellerin.
„Die Sackgasse“ ist ein Buch über die verlorene Generation von Jugendlichen, die in den Jahren des Dritten Reiches aufwuchsen und nach dessen Verwüstung ein neues Leben beginnen. Trümmerlandschaft und Bombenschäden kommen darin nicht vor, dass in diesem 1947 erschienenen Roman Nazis oder deren Opfer keine Rolle spielen, mag auf den ersten Blick verwundern, erklärt sich aber aus dem einfachen Umstand, dass den zeitgenössischen Lesern die kurz zurückliegende Barbarei hinlänglich bekannt war. Das von einem guten Dutzend Figuren bevölkerte Panorama einer nicht gerade freundlichen Kleinbürgergesellschaft ist umso deutlicher mit autobiografischen Erfahrungen der Autorin grundiert. Auch Wien wird im Buch namentlich nicht genannt, die Schauplätze an Donau und in der Lobau, in Innenstadt und Vororten sind eindeutig erkennbar.
Im Zentrum stehen die Geschwister Kleist und die Bewohner eines herabgekommenen Zinshauses in besagter, offenkundig symbolischer Sackgasse. Der gelernte Buchbinder Rupert Kleist, vierundzwanzig, möchte Schriftsteller werden und weiß nicht, wie das geht. Dessen lebenslustige Schwester Luise, siebzehn, ist Verkäuferin in einem großen Warenhaus, die ältere Schwester Fanny arbeitet als Stenotypistin. Gemeinsam mit der Mutter teilen sie ein Zimmer, die Wohnung ist von Schimmel und Ungeziefer befallen. Über die Sackgasse selbst heißt es einmal: „Sie schimmerte in allen Farben des Regenbogens bis hinunter zur Straßenecke. Petroleum, dachte Luise, wie ich dieses schmutzige Pflaster verabscheue.“ Aus dieser Welt gilt es zu entkommen.
Das Panorama einer nicht gerade freundlichen Klein¬bürgergesellschaft ist mit autobiografischen Erfahrungen der ¬Autorin grundiert.
Schnippisch und voll gegenseitiger Anteilnahme (heute würde man sagen „Empathie“) verhandeln die Geschwister, wie Rupert-Pertie für seine Karriere als Autor vorgehen müsse. Die kleine Schwester Luise: „Setz dich hin und schreib einen Roman. Wenn du Geld hast, bist du ein freier Mann und kannst in eine Gegend ziehen, wo vernünftigere Menschen wohnen. Hätte ich dein Talent, ich fände aus dieser Sackgasse heraus, und die Welt ließe sich von mir wie ein Ball jonglieren. Du nimmst deine Begabung gelangweilt zur Kenntnis und nützt sie nicht aus.“
Ferra-Mikura reflektiert in ihrem Buch en passant nicht nur das Entstehen des eigenen Buches, mit dem Auftritt der Redakteure, die sich als schnöselige Besucher im armseligen Hause Kleist zur Besprechung künftiger Pläne ihrer Zeitschrift Parallele einfinden, gelingt Ferra-Mikura eine amüsante Persiflage auf die Literatur- und Kulturszene der österreichischen Nachkriegsjahre. Man faselt von ästhetischer Revolution und fabuliert im Duktus des Phantastischen Realismus. Die Bodenhaftung, die ein Chefredakteur dem angehenden, über Ätherisches schreibenden Dichter Rupert nahelegt, erlebt dieser während eines Spazierganges an den „Strom“ in Gestalt eines proletarischen Fischers, der sein schwimmendes Domizil jungen Paaren als Liebesnest zur Verfügung stellt. Dort trifft der von Selbstzweifeln gequälte Schwerenöter, der noch nie mit einer Frau zusammen war, erstmals auf Leni, in die er sich blitzartig verliebt.
Vera Ferra-Mikura scheut kein Element saftiger Kolportage, um die verzwickte Lage ihrer Figuren in grellen Szenen darzulegen: Mit bösem Witz wird die vornehme Kundschaft des Warenhauses karikiert, in dem Luise als Verkäuferin arbeitet, bevor sie aus vorgeblich arbeitsrechtlichen Gründen zum Lauf¬mädchen degradiert wird; dass sie, um zu einer eigenen Unterkunft zu kommen, Jungkünstlern Modell steht, spricht sich im Haus in der Sackgasse alsbald als Skandal herum. Vom arroganten Gehabe der Künstler¬entourage abgestoßen, geht Schwester Fanny bei der Wahl ihres künftigen Partners vorsichtiger vor – sie ist denn auch die Einzige der drei Geschwister, der eine Art Happy End blüht. Über dem nächtlichen Verfassen eines Gedichts beobachtet Rupert seinerseits im Haus gegenüber eine Frau, die sich gerade auszieht – sein Besuch bei einer Prostituierten endet im Fiasko. Auchdie aufmunternden Reden seines Gesprächspartners Schwalbe (Vegetarier, Asket und Sozialist) bewahren ihn nicht vor dem psychischen Zusammenbruch. Allein die lebenshungrige Luise ereilt ein noch tragischeres Schicksal – von Helmut geschwängert und verlassen, verblutet sie an den Folgen der Abtreibung bei einer Engelmacherin.
Die komplex verwobenen Handlungsstränge von „Die Sackgasse“ mögen psychologisch nicht immer ganz überzeugend motiviert sein, umso deutlicher ist das von der Erzählerin der Toten in den Mund gelegte Vermächtnis an die Lebenden: „Liebt euch –“
Im Nachwort beschreibt der Literaturkritiker ¬Peter Zimmermann auf höchst luzide Weise die Ästhetik des Romans und die Situation der österreichischen Nachkriegsliteratur, als deren fixen Bestandteil man künftig auch Vera Ferra-Mikuras „Die Sackgasse“ lesen sollte.
Die Furche, Erich Klein, November 2022