294 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband

€ 24.00

ISBN 978-3-903184-85-5

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Paul Ferstl

Das Grab von Ivan Lendl

Der ehemalige Zivildiener Ivan stirbt bei einem Unfall während eines Wiederaufbauprojekts in Rumänien. Sein Kumpel Pich will herausfinden, wie Ivan in den letzten Jahren gelebt hat. Als Ivans Schwester Ivanka auch nach Rumänien kommt, beginnen die beiden eine gemeinsame Reise durch das Land. Der starke neue Roman von Paul Ferstl, einem der größten österreichischen Erzähltalente.

Zivildiener in Rumänien und in der Ukraine, in der ausländischen Provinz abgestellte junge Männer, die fern von daheim für wenig Geld schwer arbeiten. Einer davon ist der 19-jährige Zivildiener Pich. Er baut Hütten im Überschwemmungsgebiet, muss mitanpacken, wo er vor Ort gebraucht wird. Zu essen gibt es Eintopf mit viel Zwiebeln, zu trinken gibt es Bier und viel Schnaps, die Not der Bevölkerung bedingt auch die Lebensumstände der Zivildiener. Dann passiert ein Unfall und Pichs Kollege Ivan, der schon länger in Rumänien weilt, weil er nach dem Zivildienst einfach dortgeblieben ist, kommt dabei zu Tode. Ivans Schwester Ivanka kommt zu dem Begräbnis. Sie will herausfinden, wie der Unfall passiert ist, auch, wie und wo ihr Bruder dort lebte und begibt sich auf die Suche. Begleitet wird sie von Pich.
In Rückblenden wird Pichs Beziehung zu Ivan während des gemeinsamen Jahres erzählt. Als im rumänischen Norden ein Zivildienstkollege Selbstmord begeht, steigt der Verdacht auf, dass Ivans Tod kein Unfall gewesen sein könnte.

Paul Ferstls Roman über junge Menschen in einem fremden Land, die sich plötzlich einer Verantwortung stellen müssen, der sie kaum gewachsen sind, über sexuelle Gewalt unter Männern in prekären Lebensumständen, und über die Macht und Ohnmacht des Schweigens.

IVANS GRAB

Sie sagten, die Schwester sei gekommen, also kletterte Pich aus dem Grab. Die vier, die seit dem Morgen geschaufelt hatten, schauten in das Grab hinunter. Auf dem Grund stand knöcheltief braunes Wasser, und sie beschlossen stillschweigend, dass sie fertig waren. Pich hatte noch über den Rand hinausblicken können, es war also keine Rede von den einhundertachtzig Zentimetern, die sie sich zum Ziel gesetzt hatten, sie hatten aber keine Lust mehr. Der Ingenieur holte vier Flaschen Bier aus dem Kübel, in dem sich am Morgen noch Eis befunden hatte.
Zu viert waren sie schnell gewesen. Es musste etwa elf Uhr sein – mittlerweile hatte es weit über dreißig Grad. In einem Meter Tiefe war es langsam feucht geworden, zum Schluss hatten sie auf die Schaufel verzichtet und nur noch mit zwei Kübeln Schlamm geschöpft. »Falls wir einen finden, siehst ihn
wenigstens nicht«, hatte Pich zum Sohn des Ingenieurs gesagt. Der war zu hart gewesen, sich sein Unbehagen anmerken zu lassen.
Sie waren sich alle einig gewesen, dass die Sache scheiße war. Also hatten sie nicht viel darüber geredet. Es musste erledigt werden. Vier Mann waren eigentlich zu viel, denn nur einer hatte Platz im Grab. Dafür hatten sie immerhin Tempo machen können. Und alle mussten bleiben: Pich, weil er Ivan kannte. Der Mann aus dem Dorf, weil er als Vertreter geschickt worden war. Der Ingenieur, weil er es für ein Abenteuer hielt. Und der Sohn des Ingenieurs, weil sein Vater es für ein Abenteuer hielt.
Der Ingenieur öffnete die Bierflaschen nacheinander mit einem Feuerzeug und reichte sie weiter. Sie stießen nicht an. »Ist das normal?«, fragte Pich den Mann aus dem Dorf und schaute in das Grab hinunter. Der Sohn des Ingenieurs spuckte seinem Blick nach. Die Spucke klatschte auf die Wasseroberfläche, öffnete ein weiteres blindes Auge im Schaum. Die drei anderen drehten sich zu dem Sohn um. Der sagte: »Sorry« und verschwand beschämt in seiner Flasche.
»Ja, das ist ganz normal.« Der Mann aus dem Dorf bewies Feingefühl und deckte die peinliche Situation zu, indem er Pichs Frage aufgriff. »Ganz normal. Wir haben hier immer viel zu viel Wasser.« Er lachte. Pich reagierte auf den Galgenhumor mit dem anerkennenden Nicken, das hier angemessen war: Vor drei Monaten hatte die Donau das Haus des Mannes abgerissen.
»Meine Großmutter hat dasselbe aus ihrem Dorf erzählt«, sagte der Ingenieur, der, aus dem Grab heraufgestiegen, wieder zurück in seine Redseligkeit fand, »Wasser ab einem Meter Tiefe, jedes Begräbnis ein Ärgernis, sie haben den Toten ein paar Steine mit in den Sarg gegeben, sonst wären sie wie Delphine immer wieder aus dem Grab gesprungen. Das sollten wir uns auch überlegen, so ein paar Steine, bevor das gleich noch peinlich wird …«
»Wo ist die Schwester?«, fragte Pich, der die Frage nach dem Grundwasser bereits bereute. Er hätte es sich eigentlich denken können und hatte es sich wohl auch gedacht, das Wissen aber tief nach unten gestopft. Es half nur nichts. Das Wissen sprang immer hoch, wie ein Delphin aus einem Grab. Er sah sich um, einmal im Kreis über die Grabsteine hinweg bis ans Ende der Welt, wo sich rundum Ebene und Himmel berührten, ein Land ohne Ausweg, flach wie ein Handteller, um den sich jederzeit eine Faust schließen konnte. Im Süden irgendwo die Donau, die sich in den letzten Monaten ein paar neue Arme gegraben
und allein im nahen Umkreis zwei, drei Dörfer mitgenommen hatte. Grasgelb und schlammbraun die Ebene, kein Baum gab dem Auge Halt – nur weit links eine Stromleitung. Vor wenigen Tagen noch hatte Pich auf dieser Stromleitung balanciert, die gestürzt, saftlos, aber straff von Böschung zu Böschung eines neuen Donauarms führte, war von den Kabeln in das Wasser drei Meter tiefer gesprungen – ein beliebter Sport zur Abkühlung am frühen Abend, wenn sie den Hüttenbau für den Tag eingestellt hatten. Naherholungsgebiet Donau, am Abend schuppten sie Fische für das Essen, die jemand aus dem Strom gezogen hatte, nun gruben sie ein Grab und legten Ivan in das Wasser zu den anderen Toten.
»Dana ist vorhin mit einer Frau gekommen und in das Häuschen da mit Ivan hinein, das wird die Schwester gewesen sein. Heute Früh ist sie in Bukarest gelandet, ein Typ von der Botschaft wollte sie herbringen, das geht sich aus, wenn sie früh gelandet ist«, sagte der Ingenieur, »da fällt mir ein, egal ob Steine oder nicht, die Eisbeutel müssen wir unbedingt wieder heraustun, bevor wir ihn hertragen. Mein Rücken ist nicht –«
»Schaut sie ihn sich an?«, fragte der Sohn.
»Keine Ahnung«, sagte der Ingenieur, »ich hoffe nicht.«
»Identifiziert ist er ja«, sagte Pich.
Die zwei Frauen traten in diesem Moment wieder aus dem Haus. Dana war offiziell in Rock und Bluse. Während des Projekts hatten sie die Männer nur mit an den Oberschenkeln abgerissenen Jeans, Bikinioberteil und T-Shirt gesehen. Wie auf ein Kommando, das von diesem seltsamen Anblick ausging, als hätte eine Glocke den Beginn des Begräbnisses angekündigt, leerten die vier die Bierflaschen und verstauten sie im Kübel. Der Ingenieur fuhr sich mit einer Hand durch die verschwitzten Haare, Pich streifte das nasse Bandana vom Kopf und bückte sich nach seinem Unterhemd.
Ivans Schwester sah wie eine ostdeutsche Rucksacktouristin aus, die eine harte Woche und irgendeine überaus ungute Begegnung hinter sich hatte: zu viel Gewicht auf dem Rücken,
feste Schuhe dreckig, kein Geld, Haare konnten eine Wäsche brauchen, wäre gerne anderswo. Kein Geld, das wusste Pich, den Rest konnte er sehen. Er spürte, dass er sich hinter dem Ingenieur verstecken wollte, und zwang sich stehen zu bleiben.
Als sie näher kam, war er sich sicher, dass sie als Erstes eines und nur eines sagen würde: »Du hast meinem Bruder die Schuhe gestohlen.« Aber niemand, auch nicht die eigene Schwester, würde die Schuhe erkennen, mit denen er im Matsch auf dem Grund von Ivans Grab gestanden war.
Die Männer stellten sich vor. Der aus dem Dorf verließ die Gruppe sofort nach dem Händedruck, um den Priester zu holen. Seine Eile, und mehr noch sein plötzliches Verschwinden brachte die Herde in Unruhe: Nun waren sie allein, und alle Fremde hier.
»Ivanka«, so hatte sich Ivans Schwester vorgestellt.
Nachdem man entdeckt hatte, dass Ivan von drei Öfen erschlagen worden war – so viele waren zumindest von dem Anhänger gestürzt, den er alleine zu entladen versucht hatte –, nahmen die Dinge zunächst reibungslos ihren Lauf. Sein Tod war selbst für Laien eindeutig festzustellen. Während sie auf Polizei und Arzt warteten, übernahm die Frau von der Botschaft das Kommando.
»Wie ist er nur auf die verrückte Idee gekommen, dass er das alleine machen kann?«, fragte sie in die Runde aus Rumänen, Österreichern und Deutschen, aus denen sich die Belegschaft zusammensetzte. Sie war immer leicht gereizt, als wäre jedes Geschehen eine persönliche Kränkung. Auch in dieser Situation war es nicht anders, und es fühlte sich angesichts einer Leiche ebenso unpassend an wie an Tagen ohne Todesfall.
Es war dunkel auf dem eingezäunten Parkplatz hinter der Schule, wo die Fahrzeuge des Projekts und das Material standen. Jemand hatte eine Gaslaterne neben Ivans Körper gestellt, ihr Schein reichte aber nur aus, ihn und gerade noch die Nächststehenden zu beleuchten.

Paul Ferstl und "Das Grab von Ivan Lendl"
Nach dem Roman „Fischsitter“ lässt der Wiener einen Zivildiener durch Rumänien fahren, der sich von Zacusca ernährt

Was wird danach kommen? Als im Riesenaquarium eines sehr Reichen, der Sessel aus rechtsdrehendem Holz besitzt, fast alle Fische verenden, wird ein Experte geholt. Ein „Fischsitter“ (Buchtitel, Milena Verlag). Er lässt sich einen überlebenden Zackenbarsch in Butter braten und schmeckt sofort heraus: Irgendwo im Aquarium liegt ein Spielzeugauto aus China, mit giftiger Farbe ...
Wie kann der Wiener Paul Ferstl - Foto oben - in seinem neuen Roman „Das Grab von Ivan Lendl“ denn jetzt verblüffen? Mit Ernsthaftigkeit.
Und erneut mit einem Thema, das alles andere als „ausgezuzelt“ ist: Zivildiener im Auslandseinsatz.
Ein 18-Jähriger, der sich zum Entsetzen seiner Eltern nach Rumänien gemeldet hat, um bei aller Liebe ein bisschen von ihnen wegzukommen.
Der erstmals Verantwortung übernimmt (und etwas zu abgebrüht wirkt).
Der sich monatelang vor allem von Zacusca (Brotaufstrich aus Paprika, Melanzani, Tomaten) und Zwiebel und Bier aus großen PET-Flaschen und Schnaps, auch heißem Schnaps, ernährt.
Zuerst ist er in einem Pflegeheim, dann in einem Dorf, das von der Donau zum Teil weggeschwemmt wurde. Er arbeitet mit, wenn Hütten gebaut werden – und ein Freiwilliger aus Rumänien von einem Ofen, der vom Lastwagen fällt, erschlagen wird.
Ivan hieß er. Er war nicht versichert. Der Zivildiener gräbt ihn deshalb an Ort und Stelle ein.
Mit dessen Schwester Ivanka, die aus Wien zum Begräbnis anreist, beginnt das richtige Abenteuer. Erstens sowieso. Zweitens begibt man sich gemeinsam auf Ivans Spuren, nach Hermannstadt, wo er eine kleine Wohnung hatte, nach Bukarest ... Der Zivildiener wird ein zweites Grab schaufeln müssen.
Paul Ferstl war Zivildiener in Rumänien (ehe er Germanistik studierte und mit der Sozialgeschichte der Profi-Wrestler promovierte). Er musste trotzdem viel erfinden. So spannend kann sein Zivildienst wohl nicht gewesen sein.
Man merkt, dass Dialoge Ferstls Stärke sind. Das ist seine Art zu erzählen. Rumänien ist dadurch leider kaum zu spüren.
Nur wenn übers Essen gesprochen wird, dann schon: „Hast du Angst vor Kutteln?“

Kurier, Peter Pisa, 7.6.2022



Paul Ferstl ist ein mitreißender Roman gelungen, der den Spannungsbogen vom ersten bis zum letzten Wort hält.

Tempo- und spannungsreich führt der vielseitige Paul Ferstl die Leserin in seinem dritten Roman über Berg und Tal auf schlechten Straßen bis nach Odessa. Leider, möchte man sagen, gewinnt das Buch wegen des Kriegsgeschehens in der Ukraine an Aktualität. Es geht um österreichische Auslandszivildiener, die bei Hilfsprojekten in Rumänien eingesetzt werden. Dort sorgt nur eine fadenscheinige Infrastruktur für sie und bald fühlen sich manche von den Verhältnissen überfordert. Aber der Reihe nach.
Der sympathische junge Held des Romans ist Pich, ein für den Auslandszivildienst angeheuerter Zimmermann. Froh, dem Elternhaus in der tieferen Steiermark zu entkommen (Dach über dem Kopf, Essen, Sauberkeit, Arbeitsmoral / 95), springt er mit seinem neu erworbenen Opel Corsa (tapferes Auto / 36) auf die E 68 auf („aufspringen“ ist ebenfalls ein Zitat). Von seinem Kollegen Ivan lernt er, dass man der Straße besser eine Flasche Bier (Ursus, Murauer) opfert, bevor es zu spät ist. Am Beginn der in scharfe Vor- und Rückblenden geschnittenen Handlung steht ein Unfall. Ivan ist beim Bau von Hütten für rumänische Überschwemmungsopfer tödlich verunglückt. Ein dummer Zufall. Das Ergebnis eines allgemeinen Besäufnisses. Für das Begräbnis will aber niemand aufkommen: Geld ist nicht da, und, wie sich herausstellt, auch keine Versicherung. Also gräbt Pich mit anderen Freiwilligen das Grab für Ivan Lendl, der eigentlich Peter heißt. Als seine Schwester Ivanka (eigentlich Martina) kommt, muss Pich sich ihren Fragen stellen. Was ist in dieser Gemeinschaft schief gelaufen, der sich Helfer wie Profiteure verschrieben haben? Unterwegs nach Siebenbürgen, durch Moldawien, in die Ukraine, an die Donau und in die Karpaten machen wir mit Männern verschiedener Altersgruppen Bekanntschaft, die aus unterschiedlicher Motivation an den Hilfsprojekten mitarbeiten. Die Mehrheit: „Entwicklungshilfetouristen auf Gutes-Tun-Safari“ (110) wie Pich mit Zivildienerstolz bemerkt. Daneben die Kollegen, die wie Ivan Spitznamen tragen: Bobby, ein hyperaktiver Antialkoholiker, Dr. Richard, ein Praktiker mit Bodenhaftung, Stefan, ein ironischer Wanderprediger, Keanu Reeves, ein orientierungsloser Maturant. Und Pich selbst? Einer mit besonderen Antennen für seine Mitmenschen. Eine Horde unerfahrener junger Menschen, die, auf verschiedene Hilfsprojekte verteilt, sich selbst überlassen werden. Nur Ivan greift auf mehr Erfahrung zurück und nützt diese zu seinem eigenen Vorteil. Kurz bevor der Unfall passiert, erfährt Pich von einem Vorfall zwischen seinen Kollegen, der ihm an die Nieren geht.
Was als unbekümmertes Abenteuer beginnt, schlägt bald in unangenehme Abhängigkeiten um. Schwere Arbeit einerseits und sinnloses Nichtstun andererseits, omnipräsente Bierkisten und starke Unterbezahlung wirken sich demoralisierend aus. Alkohol ist das Allheilmittel gegen unwürdige Unterkünfte, Sprachlosigkeit, Missbrauch und Inkompetenz. Die Bürgermeister, Baustellenleiter und Chefs, die Orientierung geben sollten, entschlagen sich der Verantwortung, lehren Eigennutz und Wegschauen. Die vielen Fragen, die in diesem Umfeld auftauchen, bündeln sich in einer: Wer bietet den jungen Leuten Schutz auf dem ungewissen Weg in die Zukunft? Die Leserin ist mit Pich auf der Suche nach einer Antwort. Er scheint alles richtig zu machen. Er ist derjenige, der Verantwortung übernimmt, frei nach dem literarischen Motto des Romans, einem Zitat von Bob Dylan: „I’ll give ya shelter from the storm“.
Ivans Schwester wird zu Pichs ständiger Begleiterin. Sie ist wie ein Spiegel, die Einzige, die echte Fragen stellt und echte Antworten gibt (Worte waren wie Markierungen, man lief ihnen nach, dann kam man irgendwo an. / Seite 142). Widersprüchlich präsent und fast unsichtbar bleibt sie an seiner Seite, wortkarg und wortstark. Starrköpfig gibt sie nicht auf, Pich dazu zu zwingen, in den Spiegel zu schauen. Ist er in seinem Verantwortungsbewusstsein doch einen Schritt zu weit gegangen? In immer neuen Vor- und Rückblenden führt der Autor die Leserin näher an seine Figuren heran, gibt Blicke frei, kehrt Vermutungen um, ändert die Perspektive. Spannend, wie Stichworte (Schneematsch, Kälte, Rollsplitt und Diesel / Seite 112) für die Beschreibung der Welt genügen und wie banale, manchmal in Dialekt angedeutete Dialoge („Hallo?“ „Berger.“ „Ja eh. Pich.“ / Seite 200) mehr als ausschweifende Schilderungen sagen. Schräge Metaphern (Das Wissen sprang immer hoch, wie ein Delphin aus einem Grab. / Seite 8 oder: Ein Loch öffnete sich in Pichs Magen und begann in strudelndem Kreis an der Welt zu saugen. / Seite 139) verströmen gezügelte Lebenskraft voll von Wünschen nach einem guten Leben. Paul Ferstl ist ein mitreißender Roman gelungen, der den Spannungsbogen vom ersten bis zum letzten Wort hält.

Literaturhaus Wien, Beatrice Simonsen, April 2022


Junge Männer, die Anfang der 2000er Jahre ihren Auslandszivildienst in Rumänien machen. In den Dörfern rund um das siebenbürgische Hermannstadt arbeiten sie in der Altenpflege oder bauen Hütten als neue Lebensgrundlage für die Menschen in einem Überschwemmungsgebiet. Die Zivildiener leben dabei so karg wie die Einheimischen und doch sind sie auf der Hierarchieleiter wegen ihrer Herkunft weit oben. Obwohl es fast noch Kinder sind, die sich aus Österreich hierher auf den Weg gemacht haben, um dem Bundesheer zu entkommen und zugleich fernab der Heimat etwas zu erleben und sich selbst zu erfahren. Das Grab von Ivan Lendl ist allerdings kein hoffnungsfroher Roman über sinnstiftendes Aufbrechen, sondern eine Coming of Age Geschichte der düsteren Sorte. Ein sexueller Übergriff, zwei Todesfälle, Mordverdacht steht im Raum.

Paul Ferstl:
Ja, ich denke, man sollte den Roman jetzt nicht als Paradebeispiel oder als eine Einführung in das Leben eines Auslands Zivildiener verstehen. Was ich getan habe, ist, ich habe ein Setting hergenommen, das ich kannte und das mir eine gute Grundlage schien, um eine existenzielle Geschichte zu erzählen. Ein Ausnahmefall, wo auf zufällig zusammengewürfelte Menschen plötzlich miteinander etwas sehr Ernstes, etwas Tragisches miteinander verhandeln, ertragen, bestimmen müssen. Und insofern würde ich sagen, dass ist kein Roman über den Zivildienst. Es ist ein Roman, der den Zivildienst als Hintergrund hat, um eine ganz eigene Geschichte zu erzählen.

Paul Ferstl war vor über 15 Jahren selbst Zivi in Rumänien, und schrieb bereits während dieser Zeit, als zukünftiger Literaturwissenschaftler, seine Erfahrungen nieder. Doch von seiner damaligen, vielleicht pubertären Motivation, als schreibender Zivildiener die rumänische Kultur zu erklären, hat er sich weit entfernt. In seinem neuen Roman geht es um Österreicher, nicht um Rumänen. In der Isolation fernab der Heimat kommen die Erfahrungen aus der Kindheit erstmals so richtig ans Tageslicht. Und die Kindheit von Ivan Lendl und Keanu Reeves - Achtung Spitznamen - scheint alles andere als rosig gewesen zu sein. Ivan Lendl ist eigentlich gar kein Zivildiener mehr, er ist nach dem Zivi einfach dageblieben. Eines Tages ist er tot- angeblich war es ein Unfall, Ivan war betrunken, als er Öfen aus einem LKW laden wollte und dann von diesen Öfen erschlagen wurde. Die Stimmung unter den Zivis war allerdings schon länger vergiftet. Bei einem Zivi Treffen soll es einen Übergriff gegeben haben. Der Zivi Pich, ein junger Zimmermann aus der Steiermark, erfährt davon, spricht aber weder das angebliche Opfer noch den angeblichen Täter an.

Paul Ferstl:
Die Schwierigkeit, in die sich Pich befindet, ist er bekommt eine Information ein Wissen und hat aber keine Erfahrung. Er hat auch keine Möglichkeit, keine Sprache, mit dieser Erfahrung umzugehen. Er ist aus einer sehr klassischen patriarchalen Welt in der Obersteiermark aufgewachsen und das, was er eben erfährt. Hier steht ein sexueller Übergriff, eine Vergewaltigung im Raum. Dafür gibt es für ihn keine Sprache. Und er kennt auch keine Handlungsweisen, wie man unter Männern, vor allem unter jungen Männern, über so etwas sprechen kann. Und gleichzeitig denke ich ist der Pich ein Mensch, der trotz oder gerade wegen seiner Jugend ein sehr natürliches Verständnis für Fairness hat. Und an dieser Diskrepanz zwischen einerseits dem Wunsch zu helfen und eben gleichzeitig auch der Unmöglichkeit, das kommunizieren zu können. Darum kreist dieses Buch.

Ivans Schwester Ivanka reist aus Österreich an und bringt Pich zum Reden. Und erlebt, in welch trister Gegend sich ihr Bruder die letzten Jahre aufgehalten hat. Die Armut der Menschen ist hier alles andere als romantisch. Frauen prostituieren sich in der Hoffnung, vom Wohlstand hier arbeitender Österreicher zumindest zeitweise zu profitieren. Die Arbeit der NGOs scheint die Situation der Einheimischen kaum strukturell zu verbessern. Es herrscht eine dystopische Abgeklärtheit, es fließt jede Menge Alkohol bei den Rumänen genauso wie bei den österreichischen Männern. Auch die Zivis saufen sich ihr Leben erträglicher, jedenfalls Ivan, der als Kind nicht nur selbst arm, sondern auch Opfer von Gewalt gewesen ist.

Paul Ferstl:
Es ist ein Roman über Hierarchien. Es ist ein Roman über Abhängigkeiten. Da geht es natürlich einerseits zum Beispiel um Mann und Frau, aber auch um die Hierarchien unter Männern, die ja sehr erbarmungslos sein kann. Und natürlich geht es auch um ein Verhältnis von Ost und West und dieser Vorstellung. Was machen dort diese teils höchst unqualifizierten jungen Männer, die dann nach Rumänien kommen, um irgendjemandem zu helfen? Das hat ja seltsame Zusammenhänge. Das ist alles Teil des Romans. Das war mir sehr wichtig, darüber zu schreiben.

Im Gegensatz dazu steht die landschaftliche Schönheit der Karpatenregion, die Szenen, in den Pich und Ivanka ausgelassen bei Sonnenuntergang in den verzweigten Donauauen baden, oder auch Ferstls lustige Soziologie der unterschiedlichen Zivi-Typen: da gibt es den streberhaften Schatzi-Zivildiener, der beflissen die rumänische Sprache lernt, überall beliebt ist und sogar im Kirchenchor singt, dann gibt den ehemaligen Zivildiener, der vielleicht eine Rumänin geheiratet hat und immer wieder an seiner ehemaligen Wirkungsstätte auftaucht, und es gibt die mythenumrankten Zivis aus den frühen 90er Jahren, deren Taten andächtig und legendenartig von den Zivi-Generationen weitergetragen werden. „Das Grab von Ivan Lendl“ hat aber auch roadtripartige Szenen, in denen Paul Ferstl die Zivis auf abenteuerliche Autofahrten durch Rumänien, Moldau bis in die Ukraine schickt. Der Plot ist krimiartig aufgebaut, Ferstl arbeitet viel mit Rückblenden und versteht es, Spannung aufzubauen. Sein Stil bleibt dabei stets schonunsglos nüchtern, manchmal geht es ins zynische. Aber auch liebevoll und humorvoll gegenüber seinen Jungs, von denen er ja selbst einmal einer war. Erfahrungen, die er nicht missen möchte.

Paul Ferstl:
Sie waren sehr eindringlich und ich denke, sie haben mich auch damals als sehr jungen Erwachsenen sehr geprägt und dass ich in der Pflege gearbeitet habe, was ich davor nie getan habe, dass ich tatsächlich bei Beerdigungen mitgeholfen habe. Das war natürlich sehr intensiv für mich. Nicht, dass Schwarze Meer zum ersten Mal zu sehen oder generell die Karpaten zu bereisen und auf der anderen Seite habe ich natürlich auch sehr viel Armut und auch Not gesehen. Sehr unmittelbar. Und es war sicher für mich auch so, dass ich den Zivildienst dann durchaus abschließen konnte. Es war für mich dann auch wieder gut zu gehen. Das muss man auch sagen.

Ö1, Ex Libris, Hanna Ronzheimer, 4.4.2022

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