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Buchreihen
294 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband
€ 24.00
ISBN 978-3-903184-85-5
Das Grab von Ivan Lendl
Der ehemalige Zivildiener Ivan stirbt bei einem Unfall während eines Wiederaufbauprojekts in Rumänien. Sein Kumpel Pich will herausfinden, wie Ivan in den letzten Jahren gelebt hat. Als Ivans Schwester Ivanka auch nach Rumänien kommt, beginnen die beiden eine gemeinsame Reise durch das Land. Der starke neue Roman von Paul Ferstl, einem der größten österreichischen Erzähltalente.
Zivildiener in Rumänien und in der Ukraine, in der ausländischen Provinz abgestellte junge Männer, die fern von daheim für wenig Geld schwer arbeiten. Einer davon ist der 19-jährige Zivildiener Pich. Er baut Hütten im Überschwemmungsgebiet, muss mitanpacken, wo er vor Ort gebraucht wird. Zu essen gibt es Eintopf mit viel Zwiebeln, zu trinken gibt es Bier und viel Schnaps, die Not der Bevölkerung bedingt auch die Lebensumstände der Zivildiener. Dann passiert ein Unfall und Pichs Kollege Ivan, der schon länger in Rumänien weilt, weil er nach dem Zivildienst einfach dortgeblieben ist, kommt dabei zu Tode. Ivans Schwester Ivanka kommt zu dem Begräbnis. Sie will herausfinden, wie der Unfall passiert ist, auch, wie und wo ihr Bruder dort lebte und begibt sich auf die Suche. Begleitet wird sie von Pich.
In Rückblenden wird Pichs Beziehung zu Ivan während des gemeinsamen Jahres erzählt. Als im rumänischen Norden ein Zivildienstkollege Selbstmord begeht, steigt der Verdacht auf, dass Ivans Tod kein Unfall gewesen sein könnte.
Paul Ferstls Roman über junge Menschen in einem fremden Land, die sich plötzlich einer Verantwortung stellen müssen, der sie kaum gewachsen sind, über sexuelle Gewalt unter Männern in prekären Lebensumständen, und über die Macht und Ohnmacht des Schweigens.
IVANS GRAB
Sie sagten, die Schwester sei gekommen, also kletterte Pich aus dem Grab. Die vier, die seit dem Morgen geschaufelt hatten, schauten in das Grab hinunter. Auf dem Grund stand knöcheltief braunes Wasser, und sie beschlossen stillschweigend, dass sie fertig waren. Pich hatte noch über den Rand hinausblicken können, es war also keine Rede von den einhundertachtzig Zentimetern, die sie sich zum Ziel gesetzt hatten, sie hatten aber keine Lust mehr. Der Ingenieur holte vier Flaschen Bier aus dem Kübel, in dem sich am Morgen noch Eis befunden hatte.
Zu viert waren sie schnell gewesen. Es musste etwa elf Uhr sein – mittlerweile hatte es weit über dreißig Grad. In einem Meter Tiefe war es langsam feucht geworden, zum Schluss hatten sie auf die Schaufel verzichtet und nur noch mit zwei Kübeln Schlamm geschöpft. »Falls wir einen finden, siehst ihn
wenigstens nicht«, hatte Pich zum Sohn des Ingenieurs gesagt. Der war zu hart gewesen, sich sein Unbehagen anmerken zu lassen.
Sie waren sich alle einig gewesen, dass die Sache scheiße war. Also hatten sie nicht viel darüber geredet. Es musste erledigt werden. Vier Mann waren eigentlich zu viel, denn nur einer hatte Platz im Grab. Dafür hatten sie immerhin Tempo machen können. Und alle mussten bleiben: Pich, weil er Ivan kannte. Der Mann aus dem Dorf, weil er als Vertreter geschickt worden war. Der Ingenieur, weil er es für ein Abenteuer hielt. Und der Sohn des Ingenieurs, weil sein Vater es für ein Abenteuer hielt.
Der Ingenieur öffnete die Bierflaschen nacheinander mit einem Feuerzeug und reichte sie weiter. Sie stießen nicht an. »Ist das normal?«, fragte Pich den Mann aus dem Dorf und schaute in das Grab hinunter. Der Sohn des Ingenieurs spuckte seinem Blick nach. Die Spucke klatschte auf die Wasseroberfläche, öffnete ein weiteres blindes Auge im Schaum. Die drei anderen drehten sich zu dem Sohn um. Der sagte: »Sorry« und verschwand beschämt in seiner Flasche.
»Ja, das ist ganz normal.« Der Mann aus dem Dorf bewies Feingefühl und deckte die peinliche Situation zu, indem er Pichs Frage aufgriff. »Ganz normal. Wir haben hier immer viel zu viel Wasser.« Er lachte. Pich reagierte auf den Galgenhumor mit dem anerkennenden Nicken, das hier angemessen war: Vor drei Monaten hatte die Donau das Haus des Mannes abgerissen.
»Meine Großmutter hat dasselbe aus ihrem Dorf erzählt«, sagte der Ingenieur, der, aus dem Grab heraufgestiegen, wieder zurück in seine Redseligkeit fand, »Wasser ab einem Meter Tiefe, jedes Begräbnis ein Ärgernis, sie haben den Toten ein paar Steine mit in den Sarg gegeben, sonst wären sie wie Delphine immer wieder aus dem Grab gesprungen. Das sollten wir uns auch überlegen, so ein paar Steine, bevor das gleich noch peinlich wird …«
»Wo ist die Schwester?«, fragte Pich, der die Frage nach dem Grundwasser bereits bereute. Er hätte es sich eigentlich denken können und hatte es sich wohl auch gedacht, das Wissen aber tief nach unten gestopft. Es half nur nichts. Das Wissen sprang immer hoch, wie ein Delphin aus einem Grab. Er sah sich um, einmal im Kreis über die Grabsteine hinweg bis ans Ende der Welt, wo sich rundum Ebene und Himmel berührten, ein Land ohne Ausweg, flach wie ein Handteller, um den sich jederzeit eine Faust schließen konnte. Im Süden irgendwo die Donau, die sich in den letzten Monaten ein paar neue Arme gegraben
und allein im nahen Umkreis zwei, drei Dörfer mitgenommen hatte. Grasgelb und schlammbraun die Ebene, kein Baum gab dem Auge Halt – nur weit links eine Stromleitung. Vor wenigen Tagen noch hatte Pich auf dieser Stromleitung balanciert, die gestürzt, saftlos, aber straff von Böschung zu Böschung eines neuen Donauarms führte, war von den Kabeln in das Wasser drei Meter tiefer gesprungen – ein beliebter Sport zur Abkühlung am frühen Abend, wenn sie den Hüttenbau für den Tag eingestellt hatten. Naherholungsgebiet Donau, am Abend schuppten sie Fische für das Essen, die jemand aus dem Strom gezogen hatte, nun gruben sie ein Grab und legten Ivan in das Wasser zu den anderen Toten.
»Dana ist vorhin mit einer Frau gekommen und in das Häuschen da mit Ivan hinein, das wird die Schwester gewesen sein. Heute Früh ist sie in Bukarest gelandet, ein Typ von der Botschaft wollte sie herbringen, das geht sich aus, wenn sie früh gelandet ist«, sagte der Ingenieur, »da fällt mir ein, egal ob Steine oder nicht, die Eisbeutel müssen wir unbedingt wieder heraustun, bevor wir ihn hertragen. Mein Rücken ist nicht –«
»Schaut sie ihn sich an?«, fragte der Sohn.
»Keine Ahnung«, sagte der Ingenieur, »ich hoffe nicht.«
»Identifiziert ist er ja«, sagte Pich.
Die zwei Frauen traten in diesem Moment wieder aus dem Haus. Dana war offiziell in Rock und Bluse. Während des Projekts hatten sie die Männer nur mit an den Oberschenkeln abgerissenen Jeans, Bikinioberteil und T-Shirt gesehen. Wie auf ein Kommando, das von diesem seltsamen Anblick ausging, als hätte eine Glocke den Beginn des Begräbnisses angekündigt, leerten die vier die Bierflaschen und verstauten sie im Kübel. Der Ingenieur fuhr sich mit einer Hand durch die verschwitzten Haare, Pich streifte das nasse Bandana vom Kopf und bückte sich nach seinem Unterhemd.
Ivans Schwester sah wie eine ostdeutsche Rucksacktouristin aus, die eine harte Woche und irgendeine überaus ungute Begegnung hinter sich hatte: zu viel Gewicht auf dem Rücken,
feste Schuhe dreckig, kein Geld, Haare konnten eine Wäsche brauchen, wäre gerne anderswo. Kein Geld, das wusste Pich, den Rest konnte er sehen. Er spürte, dass er sich hinter dem Ingenieur verstecken wollte, und zwang sich stehen zu bleiben.
Als sie näher kam, war er sich sicher, dass sie als Erstes eines und nur eines sagen würde: »Du hast meinem Bruder die Schuhe gestohlen.« Aber niemand, auch nicht die eigene Schwester, würde die Schuhe erkennen, mit denen er im Matsch auf dem Grund von Ivans Grab gestanden war.
Die Männer stellten sich vor. Der aus dem Dorf verließ die Gruppe sofort nach dem Händedruck, um den Priester zu holen. Seine Eile, und mehr noch sein plötzliches Verschwinden brachte die Herde in Unruhe: Nun waren sie allein, und alle Fremde hier.
»Ivanka«, so hatte sich Ivans Schwester vorgestellt.
Nachdem man entdeckt hatte, dass Ivan von drei Öfen erschlagen worden war – so viele waren zumindest von dem Anhänger gestürzt, den er alleine zu entladen versucht hatte –, nahmen die Dinge zunächst reibungslos ihren Lauf. Sein Tod war selbst für Laien eindeutig festzustellen. Während sie auf Polizei und Arzt warteten, übernahm die Frau von der Botschaft das Kommando.
»Wie ist er nur auf die verrückte Idee gekommen, dass er das alleine machen kann?«, fragte sie in die Runde aus Rumänen, Österreichern und Deutschen, aus denen sich die Belegschaft zusammensetzte. Sie war immer leicht gereizt, als wäre jedes Geschehen eine persönliche Kränkung. Auch in dieser Situation war es nicht anders, und es fühlte sich angesichts einer Leiche ebenso unpassend an wie an Tagen ohne Todesfall.
Es war dunkel auf dem eingezäunten Parkplatz hinter der Schule, wo die Fahrzeuge des Projekts und das Material standen. Jemand hatte eine Gaslaterne neben Ivans Körper gestellt, ihr Schein reichte aber nur aus, ihn und gerade noch die Nächststehenden zu beleuchten.
Paul Ferstl und "Das Grab von Ivan Lendl"
Nach dem Roman „Fischsitter“ lässt der Wiener einen Zivildiener durch Rumänien fahren, der sich von Zacusca ernährt
Was wird danach kommen? Als im Riesenaquarium eines sehr Reichen, der Sessel aus rechtsdrehendem Holz besitzt, fast alle Fische verenden, wird ein Experte geholt. Ein „Fischsitter“ (Buchtitel, Milena Verlag). Er lässt sich einen überlebenden Zackenbarsch in Butter braten und schmeckt sofort heraus: Irgendwo im Aquarium liegt ein Spielzeugauto aus China, mit giftiger Farbe ...
Wie kann der Wiener Paul Ferstl - Foto oben - in seinem neuen Roman „Das Grab von Ivan Lendl“ denn jetzt verblüffen? Mit Ernsthaftigkeit.
Und erneut mit einem Thema, das alles andere als „ausgezuzelt“ ist: Zivildiener im Auslandseinsatz.
Ein 18-Jähriger, der sich zum Entsetzen seiner Eltern nach Rumänien gemeldet hat, um bei aller Liebe ein bisschen von ihnen wegzukommen.
Der erstmals Verantwortung übernimmt (und etwas zu abgebrüht wirkt).
Der sich monatelang vor allem von Zacusca (Brotaufstrich aus Paprika, Melanzani, Tomaten) und Zwiebel und Bier aus großen PET-Flaschen und Schnaps, auch heißem Schnaps, ernährt.
Zuerst ist er in einem Pflegeheim, dann in einem Dorf, das von der Donau zum Teil weggeschwemmt wurde. Er arbeitet mit, wenn Hütten gebaut werden – und ein Freiwilliger aus Rumänien von einem Ofen, der vom Lastwagen fällt, erschlagen wird.
Ivan hieß er. Er war nicht versichert. Der Zivildiener gräbt ihn deshalb an Ort und Stelle ein.
Mit dessen Schwester Ivanka, die aus Wien zum Begräbnis anreist, beginnt das richtige Abenteuer. Erstens sowieso. Zweitens begibt man sich gemeinsam auf Ivans Spuren, nach Hermannstadt, wo er eine kleine Wohnung hatte, nach Bukarest ... Der Zivildiener wird ein zweites Grab schaufeln müssen.
Paul Ferstl war Zivildiener in Rumänien (ehe er Germanistik studierte und mit der Sozialgeschichte der Profi-Wrestler promovierte). Er musste trotzdem viel erfinden. So spannend kann sein Zivildienst wohl nicht gewesen sein.
Man merkt, dass Dialoge Ferstls Stärke sind. Das ist seine Art zu erzählen. Rumänien ist dadurch leider kaum zu spüren.
Nur wenn übers Essen gesprochen wird, dann schon: „Hast du Angst vor Kutteln?“
Kurier, Peter Pisa, 7.6.2022