260 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband

€ 24.00

ISBN 978-3-903184-84-8

Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.

Edie Calie

Erzähl es den Bäumen

Als ihre ehemalige Schulfreundin Kat verschwindet, wittert die Journalistin Martina Hölderlein die Chance auf Bestsellerromanstoff. Sie beginnt eine akribische Recherche, die sie unter anderem zu einer Öko-Sekte führt, wo sie lernt mit Bäumen zu reden. Zuletzt landet sie in Polen, denn angeblich lebt Kat jetzt allein im Wald.

Die junge Journalistin Martina Hölderlein sucht ihre ehemalige Schulfreundin Kat. Diese fehlte beim Klassentreffen. Unterschiedlichste Gerüchte kursieren, was aus Kat geworden ist. Sitzt sie in einer psychiatrischen Anstalt fest? Hat sie ihren Mann und die Kinder sitzen lassen, um auf Kreta als Hundesitterin zu arbeiten? Als ihre Mutter felsenfest behauptet, ihre Tochter sei an einer Überdosis Marihuana verstorben, wittert die ehrgeizige Journalistin eine Story. Das ist der Stoff, aus dem Bestseller bestehen! Die Geschichte soll als Vorlage für Martinas Roman dienen, der sie aus dem langweiligen Redaktionstrott in den Olymp des Literaturbetriebs katapultiert.
Hölderlein taucht in Kats Leben ein, spricht mit den wichtigsten Menschen und einem Teddybären. Jeder zeichnet sein ganz persönliches Bild der jungen Frau. Martina erfährt von zerbrochenen Freundschaften, zweifelhaften Arbeitsbedingungen, gesundheitlichen Problemen und der Sehnsucht nach Stille. Für ihre Recherche schleust sie sich in eine bizarre Öko-Glaubensgemeinschaft ein, versucht Kontakt zu Bäumen herzustellen, riskiert Beziehungsprobleme und reist in einen der letzten Urwälder Europas. Kat und damit des Rätsels Lösung erscheint ihr ständig zum Greifen nahe.

Edie Calies neuer Roman handelt davon, den eigenen Lebensweg zu finden. Feministische Grundsätze treffen auf geteilte Geistesstörungen, brennende Heiligtümer auf sinnsuchende Manager und mütterliche Fehlannahmen auf einen harmlosen Goth. Vielleicht ist es am Ende doch das Beste, alles den Bäumen zu erzählen.

„Ich sage ihr, dass du hier warst.“ – „Telefoniert ihr oft?“ – „Wie denn? Im Wald hat sie kein Handy.“ – „Wieso Wald?“ – „Da gibt’s keine Steckdose zum Aufladen!“ – „In ihrer Wohnung gibt’s keinen Strom?“ – „Im Wald! Sie lebt im Wald! Sie richtete sich ein Camp ein. Mit Verpflegung.“ – „Sie lebt im Wald?“ – „Hab ich doch gesagt!“

»MEDITIERE ZUM BAUM HIN. Strecke deine energetischen Fühler aus und verbinde dich mit der Kraft des Baum-Weisen.«
Hinmeditieren? Ich will mich wegmeditieren! Am besten gleich weglevitieren!
Meine überkreuzten Beine hatten aufgehört zu kribbeln und sendeten seitdem keine Lebenszeichen mehr. Wo mein Hintern den Boden berührte, fraß sich kalter Morgentau durch meine Jeans und Unterhose. Die Nässe löste Harndrang aus. Von oben wärmte die Sommersonne schon so kräftig, dass sich Schweißperlen auf meiner Kopfhaut und unter dem T-Shirt bildeten.
»Sobald deine Aufmerksamkeit wandert, bringe sie sanft wieder zurück zum Baum. Zu diesem alten Lebewesen, das dir seine Weisheiten mitteilen möchte. Er wartet seit vielen Jahren auf diese Gelegenheit. Atme tief und langsam in den Bauch. Schwinge dich auf seine Frequenz ein. Die Frequenz der Natur, die Frequenz der Heilung.«
Das Letzte, worauf der Baum wartet, ist, sich mit Trotteln wie uns zu verbinden. Falls er überhaupt etwas will, dann seine Ruhe.
Die Hippie-Frau neben mir atmete lustvoll aus. Ich öffnete einen Spaltbreit meine Augen. Hoffentlich sieht uns hier niemand! Ich fürchtete, dass mich jemand beobachten könnte, den ich von früher kannte. Seit zehn Jahren wohnte ich nicht mehr in Wien. Trotzdem traf ich noch alte Bekannte auf der Straße, wenn ich zu Besuch war.
Wir saßen zu viert um den Stamm einer knorrigen Eiche herum. Rechts von mir eine circa 60-jährige Hippie-Frau mit langen weißen Haaren. Sie trug ein pink-graues Batikkleid ohne BH darunter. Sie hatte sich gewünscht, dass wir mit einer Sharing-Runde in den Tag starten. Während ich Schwierigkeiten hatte, ihre Nippel zu ignorieren, berichtete sie uns von dem aktuellen Vollmondeinfluss auf ihre Träume. Von dem Einführungskurs erwartete sie sich lichtvolle Erkenntnisse.
Links von mir ein übermotivierter Mittvierziger-Management-Typ. Die Sorte, die sich in jedem mittelständischen Unternehmen in wichtiger Führungsposition fand, obwohl man sofort Aversionen gegen ihn hegte. Wer hievte diese Typen immer an diese Stellen? Alles an ihm wirkte aufgesetzt: seine Legofrisur, sein Lächeln und sein betont lässiges, perfekt gebügeltes Karofreizeithemd. Er erhoffte sich von dem Tag neue Skills für seine Persönlichkeitsentwicklung.
Außerhalb meines Sichtfeldes, auf der anderen Seite des Baumes, saß Otto, der Leiter des Einführungskurses. Er bestand darauf, als Hermes Xixum angesprochen zu werden, was klang wie der Name von Elon Musks Sohn. Ich stellte ihn mir im perfekten Lotussitz vor. Seine nackten Fußrücken ruhten auf der grünen Leinenhose, die schmutzigen Sohlen zeigten hoch zur Baumkrone, und seine Fersen gruben sich in seinen dicken Bauch. In meiner Vorstellung hatte er sein Leinenhemd ausgezogen. Er saß mit nacktem Oberkörper da, der speckig glänzte wie seine Glatze. Mit seinen Händen rieb er gedankenverloren seinen Bauch, als brächte es Glück. Beim Kennenlernen vor zwei Wochen war mir sofort aufgefallen, wie leichtfüßig er über die Erde tänzelte. Er richtete seine Bewegungen behände nach oben, als ob die Schwerkraft seine Leibesfülle weniger anzog. Seine ruhige Stimme passte zu seiner friedlichen Ausstrahlung. Hatte ich sie vor zwei Wochen noch als angenehm empfunden, prasselte sie nun wie Sommerregen auf das Blechdach meiner Nerven.
»Atme tief ein. Und atme tief aus.« Er atmete uns wie Darth Vader vor.
Als wüssten wir nicht, wie man atmet.
»Wenn es dir schwerfällt, eine metaphysische Verbindung aufzubauen, stelle eine physische Verbindung zum Baum-Weisen her. Bitte gedanklich um Erlaubnis und lege deine linke Hand auf die Rinde. Für uns Rechtshänder ist links die Seite, mit der wir erfühlen. Wenn du Linkshänderin bist, nimm deine rechte Hand.«
Meint er mich? Merkt er, dass zwischen der Eiche und mir Schweigen herrscht? Warum spricht er die ganze Zeit in der zweiten Person? Wir sind zu dritt! Wieder linste ich zu den anderen beiden hinüber, die still verharrten. Er sagte »Linkshänderin «! Er meint mich.
Ich fasste mit der rechten Hand auf die Wurzel vor mir. Reicht das? Oder muss es der Stamm sein? Ich schloss meine Augen und versuchte mich zu konzentrieren.
Yeah, the trees, those useless trees. Produce the air that I am breathing. The Trees, those useless trees – Wo kommen auf einmal Pulp her?
»Spüre, was der Baum dir erzählen will. Was teilt er dir mit? Eine Geschichte? Bilder? Geräusche? Gerüche? Vielleicht ein Geschmack, der dir auf der Zunge liegt? Spüre in deinen eigenen Körper hinein. Manchmal lässt dich ein Baum-Weiser teilhaben, indem seine Gefühle auf dich übergehen. Merkst du eine Veränderung?«
Yeah, the trees, those useless trees …
»Öffne dich! Energie drängt darauf zu fließen. Lass es zu! Öffne dich für alle Eindrücke und Wahrnehmungen, ohne –«
Yeah, the trees, those useless trees. Produce the air that … RUHE! Verschwinde, scheiß Ohrwurm! Yeah, the trees, those useless trees. They never said that you were leaving. Yeah the trees, those useless trees. Nicht wieder von vorne!
Die Hippie-Frau und der Management-Typ bewegten sich.
Hab ich was verpasst? Was hat Otto gesagt?
Ich tat es ihnen gleich und löste den Schneidersitz. Das Kribbeln schoss zurück in meine Beine, diesmal wesentlich stärker. Ich rappelte mich hoch und stützte mich an der Eiche ab.
»Alles gut?«, fragte der Management-Typ.
»Beine eingeschlafen«, sagte ich, »geht gleich wieder.« Ich wippte von einem Fuß auf den anderen, damit das Blut wieder normal zirkulierte.
»Vielen Dank, Hermes Xixum. Das war wunderbar«, sagte die Hippie-Frau. Sie lächelte so selig, als wäre sie von einem erholsamen Wellnessurlaub inklusive Lomi-Lomi-Massage zurückgekehrt.
»Sehr gerne. Freut mich, dass es dir gefallen hat.« Otto trat hinter dem Baum hervor, sodass er uns alle drei sah. Er trug nach wie vor sein Leinenhemd. »Bevor wir zum nächsten Punkt übergehen, interessiert mich eure Erfahrung. Wie hat es sich für euch angespürt?«
Scheiße, die nächste Sharing-Runde.

Eine Recherche ins Ungewisse: „Erzähl es den Bäumen“

Es gibt Romane, da weiß man schon nach den ersten Seiten, wohin die Reise gehen wird. In Edie Calies Roman „Erzähl es den Bäumen“ ist das nicht der Fall. Mit viel Wortwitz begleiten wir die Protagonistin auf einer Recherche, die sie von Wien bis in die letzten Winkel Polens führt.


Klassentreffen sind so eine Sache. Jahre nach dem Schulabschluss treffen Menschen aufeinander, die trotz der „ewig geschworenen Freund*innenschaft“ dann doch gar nicht mehr so viel verbindet. Die einen prahlen mit ihrem vermeintlichen Erfolg und Statussymbolen, während sich die anderen etwas genervt betrinken. Und dann gibt es noch die, die erst gar nicht aufkreuzen. Für die versammelte Gesellschaft stellt natürlich die letztere Gruppe oft das interessanteste Gesprächsthema dar. Wer hat etwas über sie gehört? Was wird wohl aus ihnen geworden sein?

In Edie Calies neuem Roman „Erzähl es den Bäumen“ ist Katharina eine von denen. Die ehemals beliebte Schülerin scheint wie vom Erdboden verschluckt. Des einen Leid, des anderen Freud. In der Hoffnung, Stoff für einen Bestsellerroman im vermeintlichen Verschwinden der ehemaligen Klassenkollegin zu finden, verfolgt die am Burn-Out kratzende Journalistin Martina Hölderlein ihre letzten Spuren.

Gefährliche Sekte oder verstrahlte Hippies?

Bei ihrer Suche nach der Verschollenen stößt sie auf die Esoterik-Gruppe „Brides of Terra“, die Bräute der Erde. Verbundenheit mit der Natur leben die „Brides“ vor allem in Kontakt mit Pflanzen, intensive Meditation mit Bäumen ist das Kommunikationsmittel der Wahl.
„Meditiere zum Baum hin. Strecke deine energetischen Fühler aus und verbinde dich mit der Kraft der Baum-Weisen.“ Hinmeditieren? Ich will mich wegmeditieren! Am besten gleich weglevitieren!
Hartnäckig und doch auch etwas widerwillig bleibt Martina an der sektenähnlichen Truppe dran – die wie Tannenzapfen verstreuten Hinweise gestalten sich als wertvoller nächster Schritt auf der Suche nach Katharina. „Was macht das für einen Unterschied, ob man dem Guru lauscht oder Bäumen?“ „Die Bäume wollen kein Geld!“

Die Recherche nimmt Fahrt auf – lang kann es nun wirklich nicht mehr dauern; den Romanerfolg hat Martina so gut wie im Sack. Bis Katharinas Mutter vom Ableben der Tochter in einem polnischen Urwald erzählt. Der poröse Mutter-Tochter-Kontakt ist lange schon erstarrt. Ein Privatdetektiv offenbarte die Hiobsbotschaft über das Ableben der Tochter.
Stirnrunzelnd und ungläubig über den angeblich Tod an einer Überdosis Marihuana begibt sich Martina - zusammen mit Katharinas ausfindig gemachten Ehemann - auf die Suche in einen der letzten Urwälder Europas – nach Polen.

Eine nachvollziehbare Sinneskrise im Urwald

„Erzähl es den Bäumen“ wird rein aus der Perspektive der Lokaljournalistin Martina erzählt. Ihr Alltag: geprägt von redaktionellem Stress. Ein cholerischer und mieselsüchtiger Chef und einfältige Arbeitsaufträge schlagen sich auf die Psyche der Mitt-Dreißigerin. Den Gedanken an die langersehnte Kündigung schleppt sie stets mit sich - verdichtet, aber doch noch nicht greifbar.

Dafür müsse Martina die Sicherheiten des tristen Jobs aufgeben und in die Unsicherheit abtauchen. Gar nicht so easy. Der Silberschweif am Horizont, der vermeintliche Erfolg als Schriftstellerin, ist der Motor und Motivator der Journalistin. Ist das Ziel endlich bereit, wird alles anders: die Tore der Literaturwelt stehen sperrangelweit offen – nie mehr Lokaljournalismus.
Auflockernd wirken die kurzen Gedichte, die nicht nur die Kapitel des Romans trennen, sondern dadurch auch einen inhaltlichen Bezug schaffen. Poetisch heißt aber keineswegs zwingend überheblich. Zumindest nicht in Edie Calies Roman. Wortwitz, teils derbe, und prägnante nachempfindbare inneren Monologe legen eine glatte Rutsche für die Identifizierung mit der gestressten Journalistin.
„Das ist das Tragische, wenn Erdbewohnerinnen vom Glauben abfallen. […] sie verlieren den Glauben an den Glauben.“ Und die Kirche Kirchensteuer.
Nach und nach entfaltet sich die Reise in Ungewisse. Ausgelutscht, aber dennoch mit einem Funken Wahrheit versehen: Der Weg ist das Ziel. So entpuppt sich die Suche nach der verschollenen Klassenkollegin als eine Suche nach dem inneren Selbst.
Der Roman von Edie Calie liest sich angenehm und schnell, ist aber mehr als nur Strand- und Urlaubslektüre.

FM4, René Froschmayer



Mit dem Urwald verschmelzen
Anfangs glaubt man, der Roman mache sich lustig über Leute, die Bäume umarmen und mit ihnen reden. Ist aber ganz und gar nicht so. Redet nur! Eine Frau ist aus ihrem bisherigen Leben ausgestiegen und mit dem Urwald in Polen verschmolzen. Eine Journalistin sucht sie.
Viele interessante Sätze stehen da, etwa: „Ihr wollt die Natur, solange sie nicht natürlich wächst.“

Kurier, Peter Pisa, Juni 2022


Locker-leichte, aber tiefgründige Sinnsuche

Als ihre ehemalige Schulfreundin Kat verschwindet, wittert Journalistin Martina Hölderlein die Chance auf einen Bestseller.
Diverse Gerüchte kursieren, was aus Kat geworden ist. Hölderlein beginnt eine akribische Recherche, die sie zu einer Öko-Sekte führt, wo sie lernt, mit Bäumen zu reden. Der originelle Roman mit locker-leicht-ironischem Ton zeichnet sich durch gedankliche Tiefe aus. Er erzählt von zerbrochenen Freundschaften und davon, den eigenen Lebensweg zu finden.

Passauer Neue Presse, Mai 2022


Es kommt nicht oft vor, dass man ein Buch öfter absetzen muss, um über das Gelesene herzlich zu lachen. Die 1987 geborene Wahlwienerin Edie Calie hat mit ihrer sympathisch-selbstironischen Ich-Erzählerin Martina Hölderlein eine Figur geschaffen, von der man sich gerne auf eine Recherchemission mitnehmen lässt. Ihr Job bei einer kleinen deutschen Zeitung langweilt die junge Journalistin. Im Verschwinden der ehemaligen Schulkollegin Katharina wittert sie allerdings eine ganz große Geschichte, der sie zum Missfallen ihres Lebensgefährten an jedem freien Wochenende nachgeht. Sie bringt die HR-Managerin eines Hotels dazu, ihr bei mehreren Gläsern Sekt indiskrete Personalinfos anzuvertrauen, schleust sich quasi undercover bei einer Wiener Öko-Sekte ein und reist zu einem Urwald nach Polen. Hochkomisch wird es, wenn sie im Wiener Schwarzenbergpark mit Bäumen sprechen soll – und sich später dafür geniert, dem Wald allzu Persönliches gebeichtet zu haben.
In die eigentliche Geschichte streut Edie Calie die unverblümten Gedanke und Kommentare ihrer Ich-Erzählerin ein und lässt es so wirken, als ob sich diese damit direkt an die Lesenden richten. Das erinnert an TV-Serien wie „Fleabag“, wo die Protagonistin in den seltsamsten Situationen die vierte Wand durchbricht. Bei Calie geschieht das oft in langen Gesprächen mit Informationen, die der Journalistin dabei helfen, das Puzzle um die rätselhafte Katharina zusammenzusetzen.
Pures Lesevergnügen.

Die Presse, Erwin Uhrmann, Mai 2022


Angeblich lebt Katharina Neugebauer, genannt Kat, in einem selbstgebauten Camp im Bialowieza-Nationalpark in Polen. Das behauptet zumindest ihr Ehemann Tobias, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, den ganzen Tag Bier trinkt und kifft und sie alle sechs Wochen dort besucht und mit Proviant und Ausrüstung versorgt.
Eigentlich ist es ja verboten, sich in diesem Wald, der sich auf beiden Seiten der Grenze zwischen Belarus und Polen erstreckt und zu den letzten Urwäldern Europas zählt, alleine aufzuhalten, weil er ein Naturschutzgebiet ist. Die Strict Protection Area sollte man ausschließlich mit einem lizenzierten Guide betreten. Außerdem darf man hier weder rauchen noch schreien, "keine Tiere anfassen, keine Pflanzen oder Pilze ausreißen, keinen Müll hinterlassen, auch keinen Urin".
Obwohl ständig Wildhüter patrouillieren, scheint Kat, die bereits als Kind Alltagsgeräusche für Krach gehalten und in einer Fantasiesprache mit Tieren und Spielzeug, dem Waschbecken oder der Klobürste geredet und in Bücher hineingeflüstert hat, um die Hauptfigur aufzumuntern, bislang unentdeckt geblieben zu sein.
Seit sie sechzehn und von zuhause ausgezogen ist, lebt sie von wenig Geld lieber unabhängig am Rand der Gesellschaft als abhängig von ihrer Mutter. Mit ihrer Art, jedem die Meinung zu geigen und "das Messer direkt ins Fleisch" zu bohren, ist sie schon im Gymnasium aus der Reihe getanzt.
Nach dem Studium übt sie ihren Job im Hotel Vollzeit aus, bis Körper und Geist darunter zu leiden beginnen und sie irgendwann findet, dass von den knarrenden Dielen und verstreut im Haus herumstehenden Bäumchen ein Lärm ausgeht, der ihr Schmerzen verursacht. Sie spaziert, weil ihr Schuhe und Socken weh tun, einfach nur noch barfuß herum; hört in der Dusche unangenehme Geräusche und vernachlässigt deshalb Körperpflege und Äußeres; muss wegen des "Baumlärms" auch noch ständig weinen und gebärdet sich, wie man es nur von verwirrten Obdachlosen und Junkies kennt, weshalb sie fristlos entlassen wird.
Es sind "auditive Halluzinationen", die sie plagen. Kat erträgt sie unter Schmerzen, manche sprengen ihr regelrecht das Hirn. Einzig das Meditieren in Parks und Wäldern hilft. Das lernt sie bei den Brides of Terra, einer kleinen Gruppe von "Licht-und-Liebe-Naturfreaks", die eine Pflanze als ebenbürtigen Partner zu sehen und die energetische Verbindung von menschlichen Erdenbewohnerinnen und Bäumen zu kultivieren versuchen. Bei einem alten Baum im Naturpark Blockheide im Waldviertel merkt sie schließlich, dass sie mit Bäumen "kommunizieren" kann und findet dadurch endlich wieder Ruhe und inneren Frieden. Ähnliches gelingt ihr auch im Bialowieza-Nationalpark, wo sie mit ihrem Mann urlaubt, während sie in der Stadt sofort in Apathie verfällt und die ganze Zeit nur teilnahmslos herumliegt.
Tobias ist mit diesem Zustand überfordert; erst recht, als sie zu seinem Geburtstag das Wohnzimmer ausräumt, darin Erde verstreut und Sträucher sowie Bäume pflanzt. Er fährt mit ihr daraufhin wieder in diesen Nationalpark, wo sie seitdem lebt und es ihr gut geht, muss sie doch hier auch keine oberflächlichen Gespräche führen oder sich mit Gesellschaft und Familie herumärgern.
Ihre Mutter lässt sie allerdings von einem Privatdetektiv suchen, der glaubt, Kat sei mit einer Überdosis tot aufgefunden worden.
Es kursieren aber auch noch andere Gerüchte: Kat sei mit fettigen Haaren und dreckiger Kleidung herumgelaufen, habe Wahnvorstellungen gehabt, sei irgendwann durchgedreht und "in der Klapse gelandet"; oder arbeite als Hundesitterin auf Kreta; oder habe einen Mann mit drei Kindern sitzen gelassen und sei nach Südamerika ausgewandert.
Der 31jährigen Martina Hölderlein, die mit ihr ins Gymnasium gegangen ist und sich immer die Anerkennung der "coolen Kat" gewünscht hat, lässt das Schicksal ihres Jugendidols keine Ruhe. Sie, die nach dem Abbruch ihres Studium als Journalistin bei der Potsdamer Allgemeinen Zeitung arbeitet, wittert eine buchtaugliche Story, ja sieht das Ganze als "Ticket" in die Literaturwelt und ideale Gelegenheit, sich von einer unbefriedigenden, stressigen Arbeitssituation zu befreien, die jeden, der nicht durch die Redaktion hetzt, sofort verdächtig macht, faul zu sein.
Nachdem ihr aber kein "handfestes Material" zur Verfügung steht, sondern nur "Vermutungen, veraltete Fakten und Lügen", führt Martina Gespräche mit Kats Freundin Morticia, mit der Mutter, die behauptet, ihre Tochter sei kürzlich verstorben, mit Kats Ex-Chefin aus dem Hotel sowie mit dem Gründer von Brides of Terra.
Es gelingt ihr auch, das Vertrauen von Kats Ehemann Tobias zu gewinnen. Ihn darf sie sogar in den polnischen Urwald begleiten, um Kat zu treffen. Doch an der vereinbarten Stelle taucht nur ein Wildhüter auf, der die beiden verscheucht.
Edie Calie erzählt diese sich zu einem Waldabenteuer auswachsende Selbstfindungsgeschichte aus der Perspektive der Journalistin Martina Hölderlein, die in die widersprüchlichen Thesen über das Verschwinden ihrer ehemaligen Schulkollegin Klarheit bringen sowie den miserablen Arbeitsbedingungen bei der Zeitung oder dem festen Kinderwunsch ihres Freundes Klaus entkommen will. Martina begibt sich deshalb auf Recherchefahrt, die ihr über die räumliche Distanz auch herauszufinden hilft, dass Mutter werden nichts für sie ist; dafür aber in den Wald ziehen möglicherweise die Lösung für alles wäre: "Keine Miete mehr zahlen, keine Einkäufe tätigen, keine nörgelnden Chefs und Partner, keine Verpflichtungen, keine Erwartungen. Nur mehr Ruhe und Frieden der Natur."
Die Suche nach Kat wird so auch zur Reise in die ungeahnten Weiten des eigenen Ichs. Und sie belebt in spannungsfördernder Weise die Handlung, die durch ihre genauen Beschreibungen, ihren Abwechslungsreichtum und Informationsgehalt einiges zu bieten hat. Ob es nun die feinfühligen Überlegungen zu Natur und Gesellschaft oder die Darstellung von Arbeitsbedingungen in der Hotellerie und ihrer Auswirkungen auf das menschliche Individuum sind, Peter Wohllebens Buch "Das geheime Leben der Bäume" (im Text als Kats Bibel ausgewiesen, die sie liebt) oder das als Schauplatz dienende Naturschutzgebiet, man erfährt einiges: Dass Marienkäfer alle 18 Stunden Sex haben; Waldspitzmäuse im Winter kleiner werden; Albinismus und psychische Erkrankungen auch bei Tieren auftreten können; Spitzhörnchen in Malaysia jede Nacht alkoholhältigen Palmennektar trinken, der in etwa 12 Gläsern Wein entspricht; es nicht nur betrunkene Tiere, sondern auch betrunkene Bäume, sogenannte drunken trees gibt; positiv denken "Bullshit" ist; die Seestadt in Wien aus lauter "Gräueltaten gegen die Menschheit" besteht; Karriere auf die Frage des Geldes reduziert werden kann und die Unsensibilität des Menschen gegenüber der Natur unbedingt beseitigt gehört.
Immer wieder wird auf die Magie und Anziehungskraft von Bäumen verwiesen. Ihre therapeutische Kraft ist am Ende auch für Martina Hölderlein greifbar, kann sie sich doch ernsthaft vorstellen, dass einen in diesem Urwald in Polen der Wunsch packt, "sein Leben hinter sich lassen und ganz mit dem Wald verschmelzen" zu wollen.
Neben dieser gedanklichen Tiefe zeichnet sich der aus der Perspektive der Journalistin erzählte Roman auch durch einen locker-leichten, ironisch-witzigen Ton aus. Man darf zudem einiges lesen, das der Ich-Erzählerin durch den Kopf geht, das sie aber nicht aussprechen will. Es ist im Text kursiv gesetzt.
Geschildert wird in Rückblenden in die Vergangenheit. Dazwischen tauchen durch römische Zahlen gekennzeichnete kurze Notate auf, die von Kat stammen könnten.
So verrückt und unangepasst ihr Lebensentwurf auch sein mag, eines lernt man von Kat und ihrem Mann Tobias auf jeden Fall: Wie absolut richtig es ist, "dass man in der Liebe Platz macht für das Glück des anderen".

Literaturhaus Wien, 27. April 2022

Top