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€ 24.00
ISBN 978-3-903460-15-7
230 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband
Erscheint September 2023
Die Enkelin
Die Enkelin fährt in ihrem Urlaub in das österreichische Dorf, in dem ihr dementer serbischer Großvater lebt. Was ein umsorgender, beschaulicher Familienbesuch sein könnte, entpuppt sich schnell als verstörende Reise in die Vergangenheit. Und die Gegenwart zeigt, dass auch die Enkelin dunkle Geheimnisse mit sich trägt.
Die Enkelin und ihre Schwester treffen bei ihrem von einer Batterie ausländischer Pfl egekräfte versorgten Großvater ein. Die Schwester fi ndet den alten Mann wie immer unausstehlich, ihre Erinnerungen an ihn sind von seiner Kaltherzigkeit der gesamten Familie gegenüber geprägt. Die Enkelin ist duldsamer; sie vermag den Tagen beim Großvater mehr abzugewinnen, was aber in direktem Zusammenhang mit ihrer Affäre mit dem verheirateten Nachbarn steht.
Im neuen Roman von Lisa Mundt geht es um viel mehr als einen Großvaterbesuch: Es geht um den unverarbeiteten Verlust der Mutter, um die psychosomatischen Schmerzen, die sie seither begleiten. Es geht um ihren serbischen Hintergrund und die damit einhergehenden Migrationserfahrungen der vorangegangenen Generationen. Rassistische Strukturen im Dorf sowie in ihrer Lebensgeschichte, die in Rückblenden nachgezeichnet wird, erschweren die ohnehin schon belastete Beziehung zum Großvater. Außerdem muss die Enkelin feststellen, dass sie sich moralisch und persönlich nicht ohne Weiteres von seinen bedrohlichen Seiten abgrenzen kann.
„Die Enkelin“ ist ein Roman ü ber transgenerationales Trauma, Care-Arbeit, gesellschaftliche Ungleichheiten aufgrund von Migration und Klasse sowie über weibliches (Körper-)Erleben im Lichte unverarbeiteter Verluste und Strapazen. Die Enkelin muss um Defi nition und Integration ihrer eigenen Erfahrungen und Anteile ringen, ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess.
Im März hat es begonnen. Mit einem Stich im linken Fuß.
Ich saß im Büro, meine Kollegin Laura am Schreibtisch gegenüber. Unsere Finger tippten, ab und zu läutete ein Telefon. Ich gab Daten in eine Excel-Tabelle ein, sie betrieb Recherche für das Projekt. Laura trug eine neue Halskette mit einem tropfenförmigen Perlenanhänger. Meine Mutter war seit einem halben Jahr tot.
Es fühlte sich an, als wäre ich auf einen Nagel gestiegen. Ich stieß mich mit einem Schrei vom Schreibtisch weg, mein Stuhl rollte bis an die Wand zurück, ich riss an meinem Schuh, zog den Socken aus und drehte meinen Fuß herum, holte die Sohle so nahe an mein Gesicht heran wie möglich. Der Schmerz war heiß und scharf, die Haut aber unberührt. Keine Wunde, keine Rötung, nicht einmal ein Ausschlag. Ich stellte den Fuß wieder auf dem Boden ab, atmete flach und schnell. Der Schmerz war verschwunden. Ich hob den Blick und Laura stand in der Mitte des Raums. Ihre Augenbrauen glätteten sich wieder und sie verschränkte die Arme.
»Brauchst du ein Glas Wasser?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf, zog den Socken und Schuh wieder an. Dann rollte ich langsam zu meinem Schreibtisch zurück. Laura setzte sich auch auf ihren Platz und warf mir einen kurzen Blick zu, den ich nur spürte und nicht erwiderte. Ihr Telefon läutete und sie hob ab. Ihre Stimme war ruhig und freundlich.
Ich sitze im Wohnzimmer und frühstücke, Lazar liegt noch im Bett. Er hat seinen Kaffee nicht angerührt. Er tut so, als würde er schlafen. Ich höre den Wagen vom mobilen Dienst. Andrea stellt den Motor ab, nimmt ihre Tasche vom Rücksitz und schlägt die Autotür zu. Ich schneide einen Apfel in mein Müsli, rühre um. Andrea kommt ins Zimmer und lässt ihre Tasche auf den Stuhl neben mir fallen.
»Herr Lazar, ich bin da«, sagt sie und kichert. »Das reimt sich.«
Ich lächle und nehme einen Schluck Wasser. Andreas Haare sind zu einem lockeren Zopf gebunden, ihr Gesicht sieht frisch und ausgeschlafen aus. Ich verziehe den Mund, ohne es zu wollen. »Wie geht es dir?«, frage ich. Sie lächelt und beginnt den Tisch abzuwischen. Ihre großen Brüste wackeln in ihrem T-Shirt, ich versuche den Blick abzuwenden.
»Gut, gut, danke«, sagt sie, »bald fahre ich nach Hause, meinen Sohn besuchen.« Ich nicke.
»Bukarest?«, frage ich. Sie nickt und hält die Krümel vom Küchentisch in ihrer Handfläche.
»Genau«, sagt sie, »ein bisschen Spaß.« Sie lacht, ich lächle.
Sie verschwindet in der Küche. Ich esse mein Müsli. Sie kommt mit einer Tasse Kaffee zurück und setzt sich neben mich auf die Eckbank. Ich sehe sie von der Seite an, sie betrachtet meine Schüssel.
»So gesund«, sagt sie.
»Ja«, sage ich.
Sie trinkt ihren Kaffee. »Brav«, sagt sie. »Wie war die Nacht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Er war sehr früh wach«, sage ich, »er hat mich aufgeweckt.« Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Und das in deinem Urlaub«, sagt sie.
Ich nicke und esse weiter. »Es macht nichts«, sage ich. Sie legt eine weiche Hand auf meine Schulter und streichelt sie. Ich spüre die Hitze in meinem Gesicht und blinzle, stecke mir schnell den Löffel in den Mund. »Du tust etwas Gutes«, sagt sie.
Ich bitte sie kurz aufzustehen, damit ich die Sitzbank verlassen und meine Schüssel in die Küche bringen kann. Andrea steht auf und öffnet ein Fenster. Ich gehe in die Küche und greife auf meine Schulter. Sie brennt. Ich atme und starre dabei auf die Küchenuhr. Ich ärgere mich, dass sie keinen Sekundenzeiger hat, dem ich folgen könnte. Der Schmerz sitzt im Knochen, nein, im Gelenk, nein, nur auf der Haut. Ich atme weiter und unterdrücke den Impuls, ins Badezimmer zu laufen und nachzusehen.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Die Tür zu Lazars Zimmer ist offen, auch dort hat Andrea das Fenster aufgerissen, der Sommer kriecht in den Raum. Ich beobachte sie. Andrea hilft ihm dabei, aufzustehen, obwohl er sie mit beiden Händen abwehrt. Sie hat seine Knie zwischen ihren Beinen eingeklemmt und steht über ihm an der Bettkante. Sie fängt seine wedelnden Hände ein und presst sie an ihre Hüfte. Dann greift sie auf seine Oberarme und zieht leicht an. Lazars Körper macht mit, gegen seinen Willen.
»Hauruck«, sagt Andrea und lacht. Lazar steht vor ihr und starrt sie an. Er trägt eine Pyjamahose und ein Pyjamahemd. Der Stoff steht steif von seinem Körper ab. Andrea beugt sich zu seiner Hüfte hinunter und zieht an seiner Hose. Sein Mund bleibt offen stehen. Er zittert. Sein Blick wandert zur Tür und er sieht mich, die Augen geweitet. Ich halte seinen Blick. Seine Beine sind dünn und haarlos. Andrea hält eine frische Unterhose in der Hand. Er führt eine Hand an seine Wange und schaut weg. Ich drehe mich um und hole die Zeitung, die Andrea aus dem Briefkasten geholt und auf der Kommode im Vorzimmer abgelegt hat. Der Gürtel hat sich ein bisschen aufgerollt, als würde er aufatmen.
An einem Sonntagmorgen im April habe ich beschlossen, den Schuppen aufzuräumen. Ich hatte die Nacht mit Albträumen und Zahnschmerzen verbracht, die in der Früh verschwunden waren. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand aus mir herausgerissen und weggeschmissen hätte; nur noch ein Körper, der Schmerzen wie Lichtschalter betätigte. Ich weinte und schluchzte, während ich verrostetes Werkzeug aussortierte und verschimmelte Tischtücher mit gehäkelten Spitzen von meiner Großmutter wegschmiss. Als mir eine Schachtel mit Nägeln auf die Zehen fiel, schrie ich laut auf, ließ mich auf den Boden fallen, trat nach der Schachtel und verfehlte sie. Der Tritt ins Leere ließ mich einen Moment lang vor Wut erstarren, dann schlug ich ungeschickt mit der flachen Hand auf den Boden und riss mir die Haut an einem losen Nagel auf. Da flog die Tür zum Geräteschuppen auf und Lazar stand mit einem Strohhut vor mir.
»Grüß Gott«, sagte er. Ich starrte ihn an und hielt meine blutende Hand hoch. Dann begann ich zu lachen. Ich vergrub mein Gesicht in meiner heilen Hand und seufzte, sah dann wieder Lazar an, lachte wieder. Er griff sich an den Hut, hob ihn kurz vom Kopf, setzte ihn wieder auf. Drehte sich einmal im Kreis und verbeugte sich vor mir. Ich scheuchte ihn sanft ins Haus zurück, und er verbrachte den Nachmittag summend und lesend auf der Eckbank.