224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Leseband

€ 23.00

ISBN 978-3-903184-59-6

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Nadja Bucher

DIE DODERER-GASSE ODER HEIMITOS MENSCHWERDUNG

Wir schreiben das Wien der Achtzigerjahre. Das Unglaubliche nimmt Gestalt an: Heimito von Doderer wird wiedergeboren. Damit nicht genug, stößt auch bald Adolf Loos dazu, ebenfalls wiedergeboren. Nicht unwesentlich dabei: Beide dürfen nun erleben, was es heißt, ein Mädchen zu sein!

Heimito von Doderer wird zehn Jahre nach seinem Tod im Körper eines Mädchens namens Marie am Wiener Stadtrand wiedergeboren. Die zeitgenössische Architektur, die Gefangenschaft in einem weiblichen Körper, alles erregt Doderers Widerwillen. Doch er sieht in seiner Widergeburt auch die Chance, endlich sein Opus Magnum, den Roman No. 7/III zu beenden. Zuvor gilt es aber, Marie den Windeln zu entwöhnen, ihr Schreiben beizubringen und ihr seinen Roman zu suggerieren. Leider hapert es irgendwie mit seiner Einflussnahme auf das Kind, Marie ist renitent.
Im Kindergarten schließt Marie Freundschaft mit Isa und Doderer entdeckt Adolf Loos, der in Isa wiedergeboren wurde. Während die Mädchen gemeinsam ihr Leben in der Großfeldsiedlung zu meistern suchen, klären die beiden intellektuellen Vertreter einer überlebten Welt den Sinn ihrer Existenzen. Die 80er-Jahre in Stahlbetonbauten. Marie und Isa singen zwischen Waldsterben, Hungersnöten in Afrika und Tschernobyl von „Ein bisschen Frieden“ und „We are the World“.

Nadja Bucher schreibt im originalen Stile Doderers eine unfassbar originelle Geschichte.

„Aus meinem Leben als Romancier wusste ich über langwierige Vorarbeiten Bescheid, jahrzehntelange Annäherungen am Weg zum großen Werk, welches sich aus vielen Teilabschnitten zusammensetzte. Meine Arbeit mit Marie erinnerte mich daran, wie zahlreich und winzig jene Schritte waren. Dies war ein regelrechtes Lehrstück in Geduld, denn während ich schon bereit für die Verschriftlichung meines Konzepts des Romans No. 7/III war, musste sie sich noch das Alphabet aneignen. Man kann eben keine Fenster in ein Haus ohne Fundament setzen.“

Isa schüttelte Maries Mutter artig die Hand. Als die allgemeine Verabschiedung vollzogen und das morgige Wiedersehen vereinbart waren, trat genau zu dem Zeitpunkt, da Marie und ihre Mutter die Terrasse und in weiterer Folge den Kindergarten verlassen wollten, Isas Mutter in Erscheinung. Isa umarmte sie, als kehrte sie aus einem Krieg, zumindest aus langjähriger Gefangenschaft, heim. Es erfolgte erstes Kennenlernen, wobei weder an Oberflächen gekratzt noch an Grundfesten gerüttelt, aber sich der wechselseitigen Sympathie versichert wurde. Die beruhte nicht zuletzt auf dem Ausruf von Isas Mutter: »Ah, Sie holen ihre Tochter auch so spät ab.«
Schlechtes Gewissen wurde durch die spontan entstandene Leidensgemeinschaft der beiden Mütter kalmiert. Beide Berufstätige lieferten einander Argumente für ein längeres Verweilen der Kinder an dafür bezahlter Institution. Unterbliebe vollständige Ausnutzung der angebotenen Öffnungszeiten, rentierten sich weder das frühe Aufstehen noch die Kosten des Kindergartens. Hernach entdeckten sie die Lage ihrer Wohnungen in unmittelbarer Nachbarschaft, was sofort zu ressourcenschonenden Kooperationen für den Hol- und Bringdienst der Kinder inspirierte.
Während die Mütter noch in der späten Nachmittagssonne standen und tratschten – die Aufsichtsperson hatte sich vom freundschaftlich werdenden Gespräch zurückgezogen, war ins Innere des Gebäudes verdampft wie böse Geister in ihre Flaschen und sonstigen Aufenthaltsorte –, saßen die Mädchen daneben auf dem warmen Steinboden, steckten ihre Köpfe zusammen und beratschlagten, welche Aktivitäten sie für den morgigen Tag planten, und wie deren Umsetzung zu bewerkstelligen wäre. Ich hörte noch Worte wie Revanche, Spielecke und Trauerweide, doch dann sprach unter all dem Getratsche eine Stimme zu mir.

–– Wer sind Sie???


Die Stimme kam nicht wie sonst über Maries Ohren zu mir, sondern klang, als säße sie in Maries Frontallappen, also ganz nahe bei mir. Schlagartig stieg die langjährig gehegte Befürchtung hoch, ein weiterer Untermieter könnte sich zu mir gesellt haben. Da mir Menschenmassen von jeher ein Graus waren, erfüllte mich die Vorstellung einer Überbelegung meines Quartiers mit Abscheu. Genau genommen war bereits ich der Beginn der Überbelegung, nicht auszudenken, wenn die fortgesetzt würde.

–– Glauben Sie, ich sehe Sie nicht? Sie funkeln achatfarben zu mir herüber.


Die Stimme war eindeutig männlicher Herkunft. Tonlage und Intonation erregten augenblicklich heftigste Ablehnung. Als wäre meine Situation nicht beschwerlich genug, sollte mir in meine letzten verbliebenen Ruhephasen ein verbaler Störenfried hineinstechen; mir jede Rückzugsmöglichkeit zunichtemachen? Womöglich setzte mir aber auch nur die Anspannung des Tages zu. Maries dauernde Stimmungswechsel hatten mich offensichtlich in Mitleidenschaft gezogen. Ich müsste nur noch den Abend überstehen, dann könnte ich auf Erholung in den Nachtstunden hoffen, sofern Marie nicht wieder in Angstzustände verfiele.

–– Also passen Sie auf, es ist zwecklos, sich vor mir zu verstecken. Für mich sind Sie so auffällig wie goldene Ornamente an Barockfassaden.


Die Mädchen saßen nahe beieinander. Ich konnte eindeutig grünes Blitzen in Isas Augen sehen.

– Wer spricht hier?
–– Das habe zwar ich Sie gefragt, aber bitte. Mein Name ist Loos, Adolf Loos.
– Das gibt’s doch nicht! Der bekannte Architekt! Hocherfreut, Sie kennenzulernen. Darf ich mich vorstellen, Heimito von Doderer.
–– Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich vermute, wir teilen ein ähnliches Schicksal?
– Sie sind gestorben und im Körper eines Kindes wieder zu Bewusstsein gekommen?
–– Ja, so unbeschönigt kann man den Vorgang formulieren. 1933 musste ich mich von meiner angestammten, wenn auch schon in Verschleiß geratenen, vergänglichen Hülle verabschieden. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist die Strafversetzung in diesen Mädchenkörper.
– Sie sind es also, der mir aus Isas Augen unterwassergrün entgegenblitzt?
–– Dies zu bestätigen, fehlt mir die Außenwahrnehmung. Sie jedenfalls glitzern aus Maries Pupillen hervor wie Onyx. Weshalb das sonst niemand sieht, ist mir rätselhaft. Doderer ist Ihr Name?
– Jawohl. Heimito von.
–– Sagt mir leider gar nichts.
– Das muss Sie nicht weiter beschämen, ich erlangte erst lange nach Ihrem Tod Weltruhm in deutschsprachigen Landen. Nein, ich scherze und möchte nicht aufschneiden, aber meine Werke wurden sogar ins Japanische übersetzt.
–– Soso. Und lassen Sie mich raten, Sie wohnen in der Doderergasse?
– Stimmt. Und Sie in der Adolf-Loos-Gasse?
–– So ist es. Ich wusste sofort, dass dahinter ein System steckt.
– Sie denken folglich auch über den Sinn des Ganzen nach?
–– Nein. Ich kenne ihn.
– Wirklich? Sagen Sie!


Während unserer Unterhaltung waren die Damen, jung und älter, an ein Ende ihrer Gespräche gekommen und hatten sich an den Ausgang des Kindergartens begeben, wo sie auch die Verabschiedung vollzogen. Sie trennten sich voneinander, wodurch mein Kontakt mit Loos gekappt wurde. Marie ging zum Familienwagen, der vor dem Kindergarten parkte, und stieg ein. Isa ging mit ihrer Mutter zu Fuß nachhause. Als Maries Mutter das Automobil an den beiden vorbeilenkte, kurbelte Marie ihr Fenster herunter, winkte hinaus und rief: »Bis Morgen, Isa!«. Diese winkte zurück. Ich konnte Loos, sofern er etwas sagte, auf die Distanz nicht hören.
Zu welchen Erkenntnissen mochte er bezüglich unserer Existenzform gelangt sein? Woher nahm er sein Wissen? Und weshalb hatte er einen Straßenzug, gleichsam eine Hauptstraße mit seinem Vor- und Nachnamen, erhalten, ich aber nur eine Art Bogen, wo allein mein Familienname Beachtung fand?
Die Mutter hielt auf dem riesigen Parkplatz eines Einkaufszentrums, welches sich abgesehen von seiner geringen Höhe architektonisch bestens in seine Umgebung einfügte. Die einfallsreich EKZ genannte Ansammlung von eingeschoßigen Geschäftslokalen unterschiedlicher Einzelhandelssparten ordnete sich zu einem labyrinthartigen Konglomerat von Läden mit Waren des täglichen Bedarfs. Neben Fleischer, Trafik und Fischhändler, fanden sich jedoch auch Zoohandlung und Juwelier. Zu beiden hatte Marie ein Naheverhältnis. Sie stieg aus dem Automobil, aufgekratzt, als wirkten die Aufenthalte im Kammerl und anschließende Frischluftzufuhr wie Aufputschmittel. Sie hüpfte ums Auto herum zu ihrer Mutter und bettelte um einen Besuch in der Kleintierhandlung.

Weil er ein Mädchen ist - "Die Doderer-Gasse" von Nadja Bucher

Wer die „Strudlhofstiege“
gelesen hat, dem ist er ein Begriff: der Troglodyt, seines Zeichens ein Höhlenbewohner, der sich nach Menschwerdung sehnt. Geschaffen wurde diese Figur - wie so viele andere großartige - von Heimito von Doderer (1896-1966).
In ihrem Roman „Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung“ lässt die Wiener Autorin Nadja Bucher den Wiener Autor wieder auferstehen. Ohne Anzug, Hut und Lavendelparfüm, dafür in voller Sprachgewalt. Dass der Dichter ausgerechnet im Körper eines Mädchens wiedergeboren wird, und das in einer nicht unbedingt kulturverbundenen Ecke Wiens - der Großfeldsiedlung in den 1980er Jahren! -, liefert Stoff für 224 unterhaltsame Seiten. Da wird unter Doderers scharfer Zunge der Hausmeister namens Lurch schon einmal zum gedrungenen, gräulichen Staubgewächs, das nur ein wenig über das Dienstkissen ragt, welches er am Fenster seiner Hausmeisterwohnung ausgelegt hat. Ein Troglodyt ersten Ranges.
Zehn Jahre nach seinem Tod findet sich Doderer in der nach ihm benannten Gasse der Großfeldsiedlung also in einem weiblichen Säuglingskörper wieder. Er leidet - an der Umgebung, an der geschmacklosen Tapete und unter den geistigen und hygienischen Misslichkeiten des Kleinkinddaseins. Ablenkung erfährt er durch die Gespräche mit Adolf Loos, der sich überraschenderweise im Körper von Maries Kindergartenfreundin Isa eingefunden hat.
Im intellektuellen Diskurs nehmen die beiden Herren ihre Vergangenheit, die gegenwärtige Existenz wie auch die Erlebnisse der beiden Kinder auseinander. Nicht jedes Gespräch wird ausdiskutiert. Während die Mädchen ihre Laternen durch die Großfeldsiedlung schwenken, „entweicht“ dem Dichter etwa: „Ich bitte, Sie, Loos, Sie lieferten den geistigen Grundstock für die Tristesse dieser Siedlung! ... Sie Totengräber des Spitzdachs!“ Mehr als die Drohung „Tod dem Giebel!“ fällt dem Wegbereiter der modernen Architektur dazu allerdings nicht ein. Leider.
Die beiden Mädchen entwickeln sich naturgemäß weiter, was akribisch, mit Witz und überaus „doderesk“ beschrieben wird. Derweil beratschlagen die beiden den Kindern innewohnenden Herren immer wieder, ob ihre Wiedergeburt denn Strafe sei – eine mit der Vergabe des Straßennamens verbundene, wie Loos vermutet - oder ob ihnen hier womöglich eine Chance gegeben werde. Doderer hofft Letzteres, will er doch noch sein Opus Magnum, den „Roman Nr 7/III“ fertigstellen – und sei es durch die Hand eines kleinen Mädchens. Pech jedoch, dass dessen literarische Fähigkeiten den Satz „Toni isst Maroni“ nicht übersteigen.
Maries Qualitäten zeigen sich indes in einer für ein Volksschulkind erstaunlichen Zivilcourage. Beherzt nimmt es das Mädchen mit Flegeln allen Alters auf, und auch wenn sie selbst es anders ausdrückt, so bereitet sie Doderer große Freude, wenn sie ihrem Gegenüber in bester „Merowinger“-Manier den Schädel „plombiert“ oder ihm eine „plauzt“. In ihrer Streitlust erkennt der Dichter seinen Einfluss – ob dieser jedoch ein gegenseitiger ist und Doderer, welcher bekanntlich kein sehr ausgeprägtes soziales Gewissen besaß, noch von Marie lernen wird? Diese Frage bleibt offen. Wer wollte schon einen gezähmten Doderer? „Aber im Grunde sind das lauter Sentimentalitäten“, würde der Dichter dazu wohl sagen –und tut es auch in dieser Geschichte.
Der Spaß, den die Autorin beim Schreiben hatte, ist spürbar und überträgt sich beim Lesen. Auch wenn sich die großartige Idee nie zu einer wirklichen Handlung aufrafft, auch wenn eine eigentliche Geschichte – im Sinn einer Pointe – ausbleibt, beschert dieser Roman doch großes Lesevergnügen.
Nadja Bucher, derselbe Jahrgang wie Marie (1976), ist Slam-Poetin und Autorin. „Die Doderer-Gasse“ ist - nach „Rosa gegen den Dreck der Welt“ und „Die wilde Gärtnerin“ – ihr dritter im Milena-Verlag veröffentlichter Roman.

Wiener Zeitung, Elisabeth Freundlinger, Jänner 2021



Im Klopfstangen-Idyll

Grätzeltour. Mit Autorin Nadja Bucher durch die Großfeldsiedlung: Über den unverhofften Charme der alten Satellitenstadt – und darüber, was Heimito von Doderer und Mundl dort zu suchen haben.
Ich hatte in der Großfeldsiedlung eine schöne freie Kindheit“, erzählt die Autorin Nadja Bucher, die kürzlich ihren dritten Roman, „Die Doderer-Gasse“, publiziert hat. „Aber wohlgefühlt habe ich mich hier nie.“ Das lag nicht unbedingt am „eher rauen Klima zwischen den Kids, ich konnte immer schnell laufen“, sondern an der Lage und Architektur. 1966 bis 1973 erbaut, ist die Großfeldsiedlung im 21. Bezirk an der Grenze zu Niederösterreich mit 5516 Wohnungen einer der größten Gemeindebauten Wiens – und die erste sogenannte Satellitenstadt rein zu Wohnzwecken.

Viel Grün, viel Beton
Mächtige Plattenbauten prägen das Bild – dazwischen Siedlungshäuser, Reihenhäuser, ein Bad, zwei Kirchen. Vor der Don-Bosco-Kirche eine kleine selbst gebaute Krippe – Schulen, Kindergärten, Kleingärten und viel Grün. Und zwischen Klopfstangen, Einkaufswagenreihen und versperrbaren Mistplätzen Straßennamen wie Adolf-Loos-Gasse, Herzmanovsky-Orlando-Gasse oder Doderer-Gasse, die „meine Fantasie angeregt haben“, sagt Bucher. „Als ich mich mit Heimito von Doderers Werk beschäftigt habe, fand ich die Vorstellung erheiternd, wie sich der so auf Status bedachte Schriftsteller wohl dazu geäußert hätte, dass hier draußen, mit Sicht auf die Mülldeponie ,Weites Feld‘, eine kleine krumme Gasse zwischen Plattenbauten nach ihm benannt ist.“
Das Grün wird an diesem kalten Jännertag im dritten Lockdown kaum genutzt: Die Spielplätze sind leer. Dafür ist im kleinen Einkaufszentrum an der Kürschnergasse überraschend viel los – trotz geschlossener Geschäfte. Auch die Städtische Bücherei, „einer meiner damaligen Lieblingsplätze“, ist zu. „Und die Zoohandlung, vor deren Auslage ich stundenlang hätte stehen können, gibt es sichtlich nicht mehr.“ Das niederschwellige Angebot, sich in der Nähe Lektüre beschaffen zu können, war für Bucher, die später Kunstgeschichte und Germanistik studierte, ein Highlight. Denn in die alte Kaiserstadt war es nicht nur ideell und intellektuell ein weiter Weg – erst seit 2006 fährt die U1 bis hierher.

Innen hui, außen buh?
1966 war die Schaffung von modernem, günstigem Wohnraum angesagt – und die Architekten Peter Payer, Oskar Payer, Heinrich Matha, Matthias Lukas Lang, Johannes Lintl, Karl Leber, Peter Czernin und Harry Glück nahmen den Auftrag ernst. In mehreren Etappen planten sie großzügige Grundrisse, geflieste Bäder, moderne Küchen, Balkone und viel Grün. So eine Wohnung war um 1970 in den Gründerzeitvierteln kaum zu finden. Überhaupt, der Spittelberg, die Innenstadt und andere heutige Top-Adressen waren abgewohnt bis abbruchreif, die Altstadtsanierung steckte noch in den Kinderschuhen. Der Zeitgeist wurde etwa in der Serie „Mundl – Ein echter Wiener geht nicht unter“ eingefangen und ist auch heute noch Thema: „Erst kürzlich hat mir eine Dame erzählt, dass in den Blocks neben dem Einkaufzentrum ein Teil des ,Mundl‘ gedreht worden sei“, berichtet Bucher. So toll die Wohnungen, so latent das Unbehagen vieler. Denn modern war auch die Raumgestaltung: Der Abstand zwischen den Wohnblöcken wurde nach der Auslegerweite der Turmkräne berechnet, die Anzahl der Wohnungen durch die Vorfertigungstechnik festgelegt.
Im Vergleich zu Seestadt oder Nordbahnviertel muten diese Abstände heute extrem großzügig an. Das viele Grün, die gute Anbindung und der Sixties-Charme der originalen Straßenlampen, Stellplatzschranken und Kunstobjekte fällt Retro-Fans positiv ins Auge. Für Bucher kein Grund, wieder hier zu wohnen: „Je älter die Epoche, desto besser gefällt sie mir, das Barocke ist schon fast zu modern. Ich habe wohl einen großen Nachholbedarf an historischer Bausubstanz.“

Die Presse, 16.01.2021


Muss das sein? Heimito von Doderer ist fassungslos: Eigentlich ist er seit zehn Jahren mausetot, begraben und betrauert von seinen Fans. Und nun das: Der Geruch stinkender Babywindeln beleidigt seine empfindliche, an edles Lavendelwasser gewohnte Nase, das Brabbeln eines Säuglings stört seinen exquisiten Sinn für Sprache und die Nuancen jedes Wortes. Ja mehr noch: Er spürt, dass er in einem Kinderkörper gefangen ist, der sich nur über das Vegetative zu äußern vermag. Bis es Doderer langsam dämmert, was da mit ihm passiert ist: Er wurde wiedergeboren, und das ausgerechnet im Leib eines weiblichen Babys, das keinerlei Anzeichen des Genialischen in sich zu tragen scheint.
Mit Kunstgriffen, die weit über die Gesetze der Wirklichkeit hinausgreifen, begibt sich Nadja Bucher auf Glatteis: Doch sie zieht dort souverän ihre Runden und setzt zu allerlei kunstvollen Pirouetten an. „Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung“ nennt Bucher ihren Roman: ein eigenwilliges, höchst skurriles Buch, das die späten 1970er und frühen -80er durchmisst und dabei vorführt, wie sich durch eine ziemlich schräge Grundidee ein neuer Erzählhorizont öffnet.
Wie schildert man die ersten zehn Jahre einer Biographie, die eigentlich nichts wirklich Besonderes zu bieten hat – sieht man davon ab, dass jedes Individuum einzig und unverwechselbar ist? Das scheint die Grundfrage, auf der die Konstruktion des Romans ruht. Marie, Geburtsdatum 1976, wächst in der Wiener Großfeldsiedlung auf, ein behütetes Wunsch- und Einzelkind. Und so wie die dortigen Sozialwohnungen als Vorzeigeprojekt der Gemeinde langsam altern, gewinnt die Protagonistin an Erfahrungen. Wir beobachten sie auf dem Weg zur Selbständigkeit: vom Säugling zum Kindergartenmädchen und weiter zur Volksschülerin auf dem Sprung ins Gymnasium. Es sind zahlreiche kleine Szenen, die sich zu einem Panorama einer Epoche zusammenfinden. Von „Am dam des“ und Pippi Langstrumpf geht es über Christine Nöstlinger, Barbie-Puppen und Bandenkriege innerhalb der Wohnblöcke zu TV-Sendungen wie „Aktenzeichen XY“, den ersten Musikvideos von Madonna und zu den Nachrichten vom Unfall von Tschernobyl und von der Besetzung der Stopfenreuther Au. Nadja Buchers Roman hangelt sich Ereignissen entlang, die emblematisch sind für sehr viele Biographien jener Tage.
Das eigentlich Spezielle dieses Romans ist weniger die Hauptfigur, die bis auf ein paar Wutausbrüche eher blass bleibt, sondern die Idee, Herrn Doderer vom Toten auferstehen zu lassen. Anfangs ist der selbsternannte Säulenheilige der österreichischen Nachkriegsliteratur entsetzt und ratlos: Was soll er mit sich anfangen, eingesperrt in den Körper eines Mädchens? Bis er einen Entschluss fasst: Seine Wiedergeburt kann nur einen Grund haben. Marie wird ihm als Medium dabei assistieren, seinen noch unfertigen Roman R7/III zum Abschluss zu bringen. Mit diesem Perspektivenwechsel hat sein neues Dasein eine wirkliche Berechtigung und Mission. Fortan beobachtet er Marie mit dem Blick des Dichters, der in ihr die zukünftige Vollstreckerin seiner Pläne sieht.
Mit dieser Wendung nimmt auch Nadja Buchers Roman an Fahrt auf und präsentiert sich in seiner Absurdität und Extravaganz: Hie das kleine Mädchen mit ihrer kindlichen Tollpatschigkeit, da der überhebliche Autor, der sich als Schöpfer inszeniert und vom hohen Ross herab doziert. Denn er ist es ja, der Maries Entwicklung aus dem Off beschreibt und kommentiert, natürlich in der ihm eigenen Erzählweise, wie sie uns aus Romanen wie der „Strudelhofstiege“, den „Dämonen“ oder den „Merowingern“ vertraut ist.
Nadja Bucher bedient sich bei Doderers Büchern und imitiert seine Sprache und den Erzählduktus mit sichtlichem Spaß. Witz entsteht dadurch, dass die abgehobenen, endlos erscheinen Satzkaskaden schiere Banalitäten beschreiben: wenn Marie zum ersten Mal am Töpfchen sitzt etwa oder sie sich als Ballettratte im rosaroten Tutu quält – für den Dichter in ihr eine besondere Schmach. Aus dieser Spannung bezieht der Roman seine Komik.
Sie verstärkt sich noch durch das Auftreten eines weiteren prominenten Wiederauferstandenen. Marie wohnt mit ihren Eltern in der Doderer-Gasse, die an zwei Seiten direkt auf die Adolf-Loos-Gasse stößt. Dort lebt ihre Busenfreundin Isa. In und mit ihr ihr kommt der große Architekt und Kulturpublizist neuerlich zur Welt. Durch die innige Verbindung der beiden Mädchen gehen auch die Herren auf vorsichtige Tuchfühlung. Sie sind sich vorher noch nie persönlich begegnet, nun prallen ihre Persönlichkeiten hart aufeinander: Der hochnäsige, etwas frauenfeindliche Doderer mit seinem Hang zur Selbstüberschätzung begegnet dem misanthropischen, vollends desillusionierten Loos, einem Zyniker mit pädophilen Neigungen und der Überzeugung, dass die Störung seiner Totenruhe als Verbrechen und Strafe zu werten ist. Enge Freunde werden die beiden nicht, dem Roman freilich geben ihre Dialoge und Streitereien einiges an Pfeffer. Zumal auch die biographischen Einsprengsel und Anspielungen zum Lese-Vergnügen viel beizutragen haben.
Nadja Buchers Plan geht auf: Der Roman ist nicht nur Kindheitsgeschichte, sondern zudem noch eine augenzwinkernde Auseinandersetzung mit dem Mythos des edlen Künstlers, mit seinen Posen und Attitüden und den ungebremsten Allmachtsphantasien. Doch so sehr Doderer bestrebt ist, die kleine Marie nach seinem Willen zu formen, um sie reif zu machen für sein Opus Magnum, so bitter muss er erkennen, dass er mit seinen Höhenflügen so manche Bruchlandung hinlegt. Marie zieht an ihm vorbei, würdigt ihn keines Blickes und beschließt, Zahnärztin zu werden
So trivial ist das Leben - und so geistreich und spaßig Nadja Buchers Roman. Bleibt nur noch die Frage, ob man nach der Lektüre zu Doderer greift oder doch zu einem der früheren Bücher der Autorin? Beides sehr zu empfehlen.

ORF, Ö1, Ex Libris, Susanne Schaber


Prominent in der G’stättn

Auf die Frage, ob die nach ihnen benannten Orte den jeweiligen Prominenten gefallen hätten, gibt's jetzt endlich eine Antwort.
Draußen in Hadersdorf erinnert ein Gedenkstein im Wald an das Geburtshaus des Schriftstellers Heimito von Doderer. Vorübergehenden fällt er vielleicht gar nicht auf, weil Gatsch und Wurzelwerk einen aufmerksamen Blick nach unten verlangen. Noch dazu ist dort im Wald auch sonst denkmaltechnisch viel los, aber dazu ein andermal.
Doderer also. Wer einmal anfängt, seinen Spuren in Wien und Umgebung zu folgen, kommt aus dem Nachlesen gar nicht mehr heraus. Wolle man Wien verstehen, müsse man Doderer lesen, schrieb die deutsche Welt einmal. Zum Verstehen gehört zweifellos auch ein Besuch beim Blauensteiner in der Josefstädterstraße, Doderers Lieblingswirt, mit dem ordentlichen Namen „Zur Stadt Paris“ in seinem schriftstellerischen Universum verewigt.
Weit, weit außerhalb dieses Universums liegt seit 1970 die Doderergasse. Mitten in der Großfeldsiedlung, wobei „mitten“ hier der falsche Ausdruck ist. Damals war „mitten“ mitten in der G’stättn. Nun weiß man ja, warum gerade in optisch anspruchsarmen Gegenden Straßen nach bekannten Persönlichkeiten benannt sind: Weil meist nur in Stadtentwicklungsgebieten Platz für neue Namen ist.
Die Frage, ob die nach ihnen benannten Orte den jeweiligen Prominenten gefallen hätten, beschäftigt nicht nur das Redaktionskomitee der Wiener Ansichten, sondern hat nun auch eine Wiener Autorin zu einem Roman mit ziemlich schrägem Plot inspiriert. Nadja Bucher beschreibt in „Die Doderer-Gasse“ (erschienen bei Milena), wie der 1966 verstorbene Schriftsteller 1976 im Körper eines Mädchens aus der Doderergasse gleichsam wiedergeboren wird. Und den Architekten Adolf Loos trifft, ebenfalls gefangen im Körper eines Kindes – aus der Adolf-Loos-Gasse. Von der Großfeldsiedlung und dem Aufwachsen in den 1980ern sind weder Doderer noch Loos begeistert. Und dann beschuldigt der Schriftsteller den Architekten als Fan der Schnörkellosigkeit auch noch, geistige Vorarbeit für die karge Großfeldsiedlung geleistet zu haben. Arg!

Kurier, Barbara Mader, 2.1.2021


Der kauzige Dichter im Körper eines Mädchens in der Großfeldsiedlung der 80er-Jahre

Der Dichter Heimito von Doderer (1896-1966) wird zehn Jahre nach seinem Tod in der Wiener Großfeldsiedlung wiedergeboren. Dabei ist sein Geist jedoch im Körper eines Mädchens eingesperrt, das ihn selbst nicht wahrnehmen kann. Dennoch wittert er die Chance, sein unvollendet gebliebenes Werk nun abschließen zu können. Nadja Buchers Grundidee zu ihrem Roman „Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung" klingt verrückt. So unwahrscheinlich die Story ist: Das Buch funktioniert.
Freilich ist die Konstruktion der 1976 geborenen Wienerin, von der bisher zwei Romane erschienen sind („Rosa gegen den Dreck der Welt", 2011, „Die wilde Gärtnerin", 2013), mehr als gewöhnungsbedürftig. Und es geht noch schräger:
Dass Doderer ausgerechnet in Marie, einem Kind mit Wohnadresse Doderergasse, wieder zu Bewusstsein kommt, ist offenbar kein Zufall. Denn gleich ums Eck gibt es die Adolf-Loos-Gasse. Und wer meldet sich plötzlich, als Marie eine Kindergartenbekanntschaft macht, aus dem Kopf des anderen Mädchens? Erraten, der berühmte Architekt, der freilich vom erst später geborenen Dichter keine Ahnung hat. Dennoch entspinnt sich bei den Begegnungen von Marie und Isa, die dicke Freundinnen werden, stets eine - für Außenstehende nicht wahrnehmbare - eigentümliche Konversation. Während Doderer davon überzeugt ist, auf seinen "Wirt" Einfluss nehmen zu können, hält Loos sein Schicksal für eine Strafe. An den seine ästhetischen Empfindungen beleidigenden modischen Vorlieben der Mädchen leidet er sehr.
Was sich in der Floridsdorfer Doderergasse abspielt, ist eigentlich eine ganz normale Kindheit - wahrgenommen freilich durch einen zwar Anteil nehmenden, aber zur eingreifenden Teilnahme unfähigen Beobachter, der die Welt buchstäblich durch die Augen eines Kindes sieht, diese aber in der eigentümlichen, verschnörkelten Sprache der „Strudlhofstiege“, der „Dämonen“ und der „Merowinger“ beschreibt. In dieser Diskrepanz liegt der Witz und der Unterhaltungswert des Buches - und der ist durchaus beträchtlich.
Das Buch beginnt mit Maries Geburt und behandelt in vielen Zeitsprüngen ihre ersten zehn Lebensjahre. Die einzelnen Episoden sind nicht immer rasend spannend. Überwiegt zunächst die Skurrilität der Versuche Doderers, dem Kind möglichst rasch Lesen und vor allem Schreiben beizubringen - schließlich wartet ja der Abschluss seines mehrteiligen Romans No. 7 quasi nur noch auf die von ihm diktierte Niederschrift durch die Hand des Mädchens - geben später auch Ereignisse in Maries Leben Erzählenswertes her. Kindliche Bandenkriege in der Großfeldsiedlung, der geladene Revolver des als Nachtwächter arbeitenden Vaters, das Widerspiegeln zeithistorischer Begebenheiten wie Au-Besetzung oder Tschernobyl-Katastrophe oder popkultureller Etappen von „99 Luftballons" bis „Ein bisschen Frieden", geben einiges her, das die beiden staunend bis ätzend kommentieren.
Als die Pubertät bei ihren „Wirtinnen" einsetzt, kann sich Doderer nicht mehr zurückhalten und beginnt Loos mit dessen gerichtsnotorisch gewordener Vorliebe für junge Tänzerinnen zu hänseln. Doch da ist das Gastspiel der alten Herren in den Körpern junger Mädchen auch schon fast zu Ende. Und man bedauert ein bisschen, dass Nadja Bucher ihrer Hauptfigur nicht noch ein wenig mehr Auslauf gegönnt hat. Zumindest die nur wenige Meter entfernte Herzmanovsky-Orlando-Gasse wäre es wert gewesen.

OE24

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