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Buchreihen
224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Leseband
€ 23.00
ISBN 978-3-903184-59-6
Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.
DIE DODERER-GASSE ODER HEIMITOS MENSCHWERDUNG
Wir schreiben das Wien der Achtzigerjahre. Das Unglaubliche nimmt Gestalt an: Heimito von Doderer wird wiedergeboren. Damit nicht genug, stößt auch bald Adolf Loos dazu, ebenfalls wiedergeboren. Nicht unwesentlich dabei: Beide dürfen nun erleben, was es heißt, ein Mädchen zu sein!
Heimito von Doderer wird zehn Jahre nach seinem Tod im Körper eines Mädchens namens Marie am Wiener Stadtrand wiedergeboren. Die zeitgenössische Architektur, die Gefangenschaft in einem weiblichen Körper, alles erregt Doderers Widerwillen. Doch er sieht in seiner Widergeburt auch die Chance, endlich sein Opus Magnum, den Roman No. 7/III zu beenden. Zuvor gilt es aber, Marie den Windeln zu entwöhnen, ihr Schreiben beizubringen und ihr seinen Roman zu suggerieren. Leider hapert es irgendwie mit seiner Einflussnahme auf das Kind, Marie ist renitent.
Im Kindergarten schließt Marie Freundschaft mit Isa und Doderer entdeckt Adolf Loos, der in Isa wiedergeboren wurde. Während die Mädchen gemeinsam ihr Leben in der Großfeldsiedlung zu meistern suchen, klären die beiden intellektuellen Vertreter einer überlebten Welt den Sinn ihrer Existenzen. Die 80er-Jahre in Stahlbetonbauten. Marie und Isa singen zwischen Waldsterben, Hungersnöten in Afrika und Tschernobyl von „Ein bisschen Frieden“ und „We are the World“.
Nadja Bucher schreibt im originalen Stile Doderers eine unfassbar originelle Geschichte.
„Aus meinem Leben als Romancier wusste ich über langwierige Vorarbeiten Bescheid, jahrzehntelange Annäherungen am Weg zum großen Werk, welches sich aus vielen Teilabschnitten zusammensetzte. Meine Arbeit mit Marie erinnerte mich daran, wie zahlreich und winzig jene Schritte waren. Dies war ein regelrechtes Lehrstück in Geduld, denn während ich schon bereit für die Verschriftlichung meines Konzepts des Romans No. 7/III war, musste sie sich noch das Alphabet aneignen. Man kann eben keine Fenster in ein Haus ohne Fundament setzen.“
Isa schüttelte Maries Mutter artig die Hand. Als die allgemeine Verabschiedung vollzogen und das morgige Wiedersehen vereinbart waren, trat genau zu dem Zeitpunkt, da Marie und ihre Mutter die Terrasse und in weiterer Folge den Kindergarten verlassen wollten, Isas Mutter in Erscheinung. Isa umarmte sie, als kehrte sie aus einem Krieg, zumindest aus langjähriger Gefangenschaft, heim. Es erfolgte erstes Kennenlernen, wobei weder an Oberflächen gekratzt noch an Grundfesten gerüttelt, aber sich der wechselseitigen Sympathie versichert wurde. Die beruhte nicht zuletzt auf dem Ausruf von Isas Mutter: »Ah, Sie holen ihre Tochter auch so spät ab.«
Schlechtes Gewissen wurde durch die spontan entstandene Leidensgemeinschaft der beiden Mütter kalmiert. Beide Berufstätige lieferten einander Argumente für ein längeres Verweilen der Kinder an dafür bezahlter Institution. Unterbliebe vollständige Ausnutzung der angebotenen Öffnungszeiten, rentierten sich weder das frühe Aufstehen noch die Kosten des Kindergartens. Hernach entdeckten sie die Lage ihrer Wohnungen in unmittelbarer Nachbarschaft, was sofort zu ressourcenschonenden Kooperationen für den Hol- und Bringdienst der Kinder inspirierte.
Während die Mütter noch in der späten Nachmittagssonne standen und tratschten – die Aufsichtsperson hatte sich vom freundschaftlich werdenden Gespräch zurückgezogen, war ins Innere des Gebäudes verdampft wie böse Geister in ihre Flaschen und sonstigen Aufenthaltsorte –, saßen die Mädchen daneben auf dem warmen Steinboden, steckten ihre Köpfe zusammen und beratschlagten, welche Aktivitäten sie für den morgigen Tag planten, und wie deren Umsetzung zu bewerkstelligen wäre. Ich hörte noch Worte wie Revanche, Spielecke und Trauerweide, doch dann sprach unter all dem Getratsche eine Stimme zu mir.
–– Wer sind Sie???
–– Glauben Sie, ich sehe Sie nicht? Sie funkeln achatfarben zu mir herüber.
–– Also passen Sie auf, es ist zwecklos, sich vor mir zu verstecken. Für mich sind Sie so auffällig wie goldene Ornamente an Barockfassaden.
– Wer spricht hier?
–– Das habe zwar ich Sie gefragt, aber bitte. Mein Name ist Loos, Adolf Loos.
– Das gibt’s doch nicht! Der bekannte Architekt! Hocherfreut, Sie kennenzulernen. Darf ich mich vorstellen, Heimito von Doderer.
–– Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich vermute, wir teilen ein ähnliches Schicksal?
– Sie sind gestorben und im Körper eines Kindes wieder zu Bewusstsein gekommen?
–– Ja, so unbeschönigt kann man den Vorgang formulieren. 1933 musste ich mich von meiner angestammten, wenn auch schon in Verschleiß geratenen, vergänglichen Hülle verabschieden. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist die Strafversetzung in diesen Mädchenkörper.
– Sie sind es also, der mir aus Isas Augen unterwassergrün entgegenblitzt?
–– Dies zu bestätigen, fehlt mir die Außenwahrnehmung. Sie jedenfalls glitzern aus Maries Pupillen hervor wie Onyx. Weshalb das sonst niemand sieht, ist mir rätselhaft. Doderer ist Ihr Name?
– Jawohl. Heimito von.
–– Sagt mir leider gar nichts.
– Das muss Sie nicht weiter beschämen, ich erlangte erst lange nach Ihrem Tod Weltruhm in deutschsprachigen Landen. Nein, ich scherze und möchte nicht aufschneiden, aber meine Werke wurden sogar ins Japanische übersetzt.
–– Soso. Und lassen Sie mich raten, Sie wohnen in der Doderergasse?
– Stimmt. Und Sie in der Adolf-Loos-Gasse?
–– So ist es. Ich wusste sofort, dass dahinter ein System steckt.
– Sie denken folglich auch über den Sinn des Ganzen nach?
–– Nein. Ich kenne ihn.
– Wirklich? Sagen Sie!
Weil er ein Mädchen ist - "Die Doderer-Gasse" von Nadja Bucher
Wer die „Strudlhofstiege“ gelesen hat, dem ist er ein Begriff: der Troglodyt, seines Zeichens ein Höhlenbewohner, der sich nach Menschwerdung sehnt. Geschaffen wurde diese Figur - wie so viele andere großartige - von Heimito von Doderer (1896-1966).
In ihrem Roman „Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung“ lässt die Wiener Autorin Nadja Bucher den Wiener Autor wieder auferstehen. Ohne Anzug, Hut und Lavendelparfüm, dafür in voller Sprachgewalt. Dass der Dichter ausgerechnet im Körper eines Mädchens wiedergeboren wird, und das in einer nicht unbedingt kulturverbundenen Ecke Wiens - der Großfeldsiedlung in den 1980er Jahren! -, liefert Stoff für 224 unterhaltsame Seiten. Da wird unter Doderers scharfer Zunge der Hausmeister namens Lurch schon einmal zum gedrungenen, gräulichen Staubgewächs, das nur ein wenig über das Dienstkissen ragt, welches er am Fenster seiner Hausmeisterwohnung ausgelegt hat. Ein Troglodyt ersten Ranges.
Zehn Jahre nach seinem Tod findet sich Doderer in der nach ihm benannten Gasse der Großfeldsiedlung also in einem weiblichen Säuglingskörper wieder. Er leidet - an der Umgebung, an der geschmacklosen Tapete und unter den geistigen und hygienischen Misslichkeiten des Kleinkinddaseins. Ablenkung erfährt er durch die Gespräche mit Adolf Loos, der sich überraschenderweise im Körper von Maries Kindergartenfreundin Isa eingefunden hat.
Im intellektuellen Diskurs nehmen die beiden Herren ihre Vergangenheit, die gegenwärtige Existenz wie auch die Erlebnisse der beiden Kinder auseinander. Nicht jedes Gespräch wird ausdiskutiert. Während die Mädchen ihre Laternen durch die Großfeldsiedlung schwenken, „entweicht“ dem Dichter etwa: „Ich bitte, Sie, Loos, Sie lieferten den geistigen Grundstock für die Tristesse dieser Siedlung! ... Sie Totengräber des Spitzdachs!“ Mehr als die Drohung „Tod dem Giebel!“ fällt dem Wegbereiter der modernen Architektur dazu allerdings nicht ein. Leider.
Die beiden Mädchen entwickeln sich naturgemäß weiter, was akribisch, mit Witz und überaus „doderesk“ beschrieben wird. Derweil beratschlagen die beiden den Kindern innewohnenden Herren immer wieder, ob ihre Wiedergeburt denn Strafe sei – eine mit der Vergabe des Straßennamens verbundene, wie Loos vermutet - oder ob ihnen hier womöglich eine Chance gegeben werde. Doderer hofft Letzteres, will er doch noch sein Opus Magnum, den „Roman Nr 7/III“ fertigstellen – und sei es durch die Hand eines kleinen Mädchens. Pech jedoch, dass dessen literarische Fähigkeiten den Satz „Toni isst Maroni“ nicht übersteigen.
Maries Qualitäten zeigen sich indes in einer für ein Volksschulkind erstaunlichen Zivilcourage. Beherzt nimmt es das Mädchen mit Flegeln allen Alters auf, und auch wenn sie selbst es anders ausdrückt, so bereitet sie Doderer große Freude, wenn sie ihrem Gegenüber in bester „Merowinger“-Manier den Schädel „plombiert“ oder ihm eine „plauzt“. In ihrer Streitlust erkennt der Dichter seinen Einfluss – ob dieser jedoch ein gegenseitiger ist und Doderer, welcher bekanntlich kein sehr ausgeprägtes soziales Gewissen besaß, noch von Marie lernen wird? Diese Frage bleibt offen. Wer wollte schon einen gezähmten Doderer? „Aber im Grunde sind das lauter Sentimentalitäten“, würde der Dichter dazu wohl sagen –und tut es auch in dieser Geschichte.
Der Spaß, den die Autorin beim Schreiben hatte, ist spürbar und überträgt sich beim Lesen. Auch wenn sich die großartige Idee nie zu einer wirklichen Handlung aufrafft, auch wenn eine eigentliche Geschichte – im Sinn einer Pointe – ausbleibt, beschert dieser Roman doch großes Lesevergnügen.
Nadja Bucher, derselbe Jahrgang wie Marie (1976), ist Slam-Poetin und Autorin. „Die Doderer-Gasse“ ist - nach „Rosa gegen den Dreck der Welt“ und „Die wilde Gärtnerin“ – ihr dritter im Milena-Verlag veröffentlichter Roman.
Wiener Zeitung, Elisabeth Freundlinger, Jänner 2021