264 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband

€ 24.00

ISBN 978-3-903184-95-4

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Peter Waldeck

Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag

1985, Neustifter Kirtag. Die konservative Politprominenz drängelt sich beim alljährlichen Winzer-Event. Es wird genetzwerkt und getrunken, alle wollen Erhard Busek die Hand schütteln und gemeinsam über Kreisky schimpfen. Dieser hochoriginelle Roman schildert einen Nachmittag inmitten dieses zutiefst österreichischen Schauspiels.

Der Neustifter Kirtag ist heutzutage ein bombastisches Event. Für drei Tage im Jahr brummt das gemütliche Weinhauer-Viertel am Rande Wiens. Prominente zwängen sich in Tracht und Dirndl, Jugendliche schniegeln sich für eine dreitägige Sauftour zurecht, Politiker geben den letzten Rest an Würde auf, um ein paar Stimmen am rechten Rand abzuräumen.
Doch in den 1980er Jahren, in denen dieser Roman spielt, war der Neustifter Kirtag noch eine erbärmliche Angelegenheit. Schäbige Stände, ein quietschendes Ringelspiel, enttäuschte Kinder, grantige Eltern, Anspannung und Ohrfeigen.
Im Mittelpunkt dieses gloriosen Romans stehen das Ehepaar Thomas und Sylvia und ihre Kinder Lisa, Michael und Willi. Familienhündin Bonny ist im Wald entlaufen, sie soll so schnell wie möglich gefunden werden, sonst passiert noch ein Unglück auf der Höhenstraße. Aber die Familienmitglieder haben drängendere Pläne: Vater Thomas will auf den Kirtag, um bei der ÖVP-Neustift nichts zu versäumen. Michael will nichts lieber als mit einem dritten Bier seinen Alkoholspiegel auf gutem Niveau halten, und Hobby-DJ Lisa ist auf der Suche nach ihren Schallplatten. Nur der Jüngste, Willi, ist voll und ganz bei der Sache, er hat in seinem Leben bereits über zehn Haustiere verloren und würde einen weiteren Verlust nicht verkraften. Und dann drehen auch noch die beiden Skinheads (mit literarischem Kultpotenzial) Gabor und Alex ihre Runden und verbreiten Gewalt und Anarchie.

Es krachte lauter, als sie es erwartet hatten. Gabor und Alex blieb die Spucke weg. Es war also eine gute Idee gewesen, den Piraten in die Bierflasche zu stecken, gemeinsam mit den vielen Ladykrachern. Mit einem Riesenknall zerbarst die Flasche, und die Scherben fetzten in alle Richtungen davon. Alex hielt sich die Hand vor den Mund, seine Wange blutete, eine Scherbe war scharf über seine Haut gezischt. Er lachte.

*

Bis in den Wald hinein donnerte der Knall noch, laut und bedrohlich, wie ein unheilvolles Wetter, das ohne Ankündigung gekommen war.
Bonny stellte die Ohren auf, hielt aber nicht inne, um zu lauschen, sondern raste los. Thomas war völlig überrumpelt. Eben noch hatte er sich mit Sylvia unterhalten, die Leine locker schleifen lassen, da krachte es und der Hund schoss davon. Bevor er kapierte, was vor sich ging, und reagieren konnte, war Bonny schon in den Tiefen des Waldes verschwunden.
»Bonny!«, rief Thomas.
»Bonny!«, rief Sylvia, seine Frau.
Aber nur einmal noch bellte Bonny zurück, schon weiter entfernt, als angenommen, dann war es still. Sie blickten einander ratlos an, warteten, ob etwas passierte, ob Bonny wieder zurückkam. Aber Bonny kam nicht. Thomas runzelte die Stirn.

*

Sylvia ärgerte sich, irgendetwas wird Thomas wohl schon falsch gemacht haben.
So ein Mist! Was werden die Kinder sagen?

*

Erde, Steine, Dreck stoben durch die Luft. Lisa bretterte heran. Viel war nicht mehr los mit dem alten Schrott-Opel, aber einen Auftritt konnte er immer noch hinlegen. Es half, dass es nicht geregnet hatte und der Boden nicht asphaltiert war. Brauner Dreck, vertrocknete Spurrillen – super Staubwolke. Lisa bremste abrupt und parkte dann hektisch unter dem Baum gegenüber dem Haus, in dem sie mit ihren Eltern und Brüdern wohnte.
Das verstanden ihre Eltern also unter einem neuen Auto: ein steinaltes Automobil der uncoolsten Marke, noch dazu in einer Farbe, die es seit bald zehn Jahren auf keiner Farbskala mehr gab – zu gestrig, keine Nachfrage.
Der Motor erstarb, und Lisa verließ all ihre Energie. Drei Wochen Ferialjob waren zu Ende. Sie wollte nie wieder daran denken müssen. Ihr Bedarf an homosexuellen Zauberern mit heterosexuellen Übergriffsneigungen war gedeckt.
Sie löste den Sicherheitsgurt, lehnte sich zurück, atmete ein, starrte die Autodecke an, atmete aus, sah beim Fenster raus. Zum Haus. Es lockte die Tür, die Dusche, das Schwimmbecken, aber Lisa war erledigt und sie hatte noch Zigaretten im Handschuhfach, und einmal ins Haus eingetreten, war Rauchen zwar nicht untersagt, aber eine komplizierte Angelegenheit wegen Blumen, die nicht vernebelt werden durften, Brüdern, die geschont werden mussten, und Räumlichkeiten, in denen das Rauchen nicht immer, sondern nur manchmal verboten war; unmöglich vorauszusagen, wie der Stand gerade war. Das Feuerzeug klickte, der Tabak knisterte, Lisa sog den Rauch ein. Eigentlich sollte sie mit dem Rauchen aufhören, aber es machte ihre Stimme so schön.

*

Eine halbe Stunde hatten sie nach dem blöden Hund gesucht. Sie hatten geschrien, gerufen. Irgendwo ein Bellen, ein Rascheln vielleicht. Vielleicht auch nur eingebildet. So ein stummer Wald ist laut, wenn man sich konzentrieren will. Jedenfalls kam der blöde Hund, pardon, die blöde Hündin, nicht mehr zurück. So ein Angsthase, so ein Angsthund. Die Hunde heutzutage hatten einfach keine Nerven mehr. Als Thomas ein Kind gewesen war, hatte es Hunde gegeben, die nichts erschüttern konnte. Keine Bomber, keine bröckelnden Häuser, keine russischen Spürhunde. Aber Bonny. Jedes Jahr zu Silvester mussten sie Bonny überlisten und ihr Psychopharmaka einflößen, damit sie keine Angstattacke bekam. Das bisschen Knallerei. Was das kostete! Geld! Als Nächstes käme dann wohl eine Therapie. Fünf Wochen Knalltherapie mit irgendeinem dahergelaufenen Dr. Brunnhaider – 5000 Schilling, na sicher! Aber irgendwann war Schluss! Schluss mit Schluss! Eine halbe Stunde gesucht und gerufen, jetzt konnte er nichts mehr tun. Sollten die Kinder Bonny suchen, den Kindern fiel es leicht, die hatten einen Draht zu ihr. Es war ja gar nicht sein Hund. Die Kinder hatten einen Hund gewollt, besonders Willi. Den anderen war es wohl egal gewesen, aber sie hatten sich auch nicht dagegen ausgesprochen. Diese Konfliktscheuheit wird sie alle noch umbringen. Hirtenhund! Das war doch gelacht. Der Hirtentitel gehörte diesem Hund mit sofortiger Wirkung aberkannt. Gefeuert gehörte der Hund. Thomas hielt inne. Er musste sich beruhigen. So ehrlich musste er zu sich selbst sein, er hatte gar nichts gegen den Hund. Bonny war entzückend, und er, Thomas, war nervös. Die Zeit lief ihm davon. Er hatte sich unten mit den Freunden von der Volkspartei verabredet und war schon wieder zu spät dran, er hatte leider schon genug Parteitreffen versäumt, das hing ihm nach. Er musste los, ganz klar. Aber würden die Kinder das auch so sehen? Enttäuscht und empört würden sie sein, und recht hatten sie damit auch noch.

Wollte man es gewählt ausdrücken, dann könnte man sagen, folgender Romantitel ist äußerst ridikül: „Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag“

Man könnte aber auch weniger nobel sagen: Dieser Romantitel ist ja vollkommen hirnrissig. Ich aber sage euch „Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag“ ist der Romantitel des Jahres. Er ist genial. Eben auch weil in ihm schon die ganze abstruse Komik steckt, die sich dann auf 260 Seiten in lächerlicher Pracht ergießt. Und sein Autor ist nicht nur ein Genie des komischen Erzählens, sondern auch der beste Romantitelgeber seit, seit … sagen wir Josef Winkler und seinem Büchlein „Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot“. Die Vorgängerromane unseres Autors heißen „Triumph des Scheiterns“ und „Die 67 enttäuschendsten Sexfilme aller Zeiten“. Alle erschienen im löblichen Verlagsimperium Milena zu Wien. Jetzt sollte ich nur noch verlautbaren, wie der Autor heißt: Peter Waldeck – gepriesen sei sein Name!

Für Nicht-Wiener muss gesagt werden, dass es sich bei Neustift am Walde um eine dörfliche Weinbaugemeinde im Nobelbezirk Döbling handelt. Eine der letzten schwarzen Hochburgen der Hauptstadt, der der Ruf der Schnöseligkeit nicht zu Unrecht anhaftet. Der berühmte Neustifter Kirtag ist ein Treffpunkt der sogenannten bürgerlichen Prominenz und Laufsteg der Bezirks- und Stadtpolitker. Ein rurales Dirndl- und Lederhosenfest am Narrensaum des Urbanen.
Zu diesem Kirtag zieht es die Protagonisten des Romans, der übrigens 1985 spielt, zu einer Zeit, so Peter Waldeck, in der das Fest noch ein ziemlich tristes Vergnügen gewesen sei – ohne jeden Seitenblicke-Glamour. Es geht um den Pallawatsch eines kleinen sich sehr wichtig nehmenden ÖVP-Klüngels, es geht um einen davongelaufenen Hund, um patscherte Vettern-Wirtschaft, Arschkriecherei und den leicht mißratenen Nachwuchs des Haupt-Ehepaars Thomas und Sylvia. Es geht ums Popsänger- bzw. DJ-Werden-Wollens von Lisa, der Tochter des Hauses und das pubertäre Saufen von Michael, dem Sohn des Hauses. Und es geht um zwei vertrottelte Skinheads, die den ganzen Zirkus mit sehr roher Gewalt ordentlich aufmischen.

Vor allem aber geht es in diesem Roman um die dramaturgische Gestaltung einer irrwitzigen Eskalation. Dramaturgisch eindeutig auch im filmischen Sinn. Denn allein schon die Schnitttechnik des Romans, seine rasche Abfolge von Szenenwechsel, schreit nach einer Verfilmung. Wären die Coen-Brothers Österreicher, sie hätten sich schon die Rechte dafür gekauft. In dieser Humorklasse nämlich spielt „Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag“.

Es beginnt gemächlich im Schritttempo. Die Figuren und ihre Dachschäden werden eingeführt, eingeblendet, ausgeblendet. Die Salzgurke als Old-School-Snack kommt ins Spiel. Wenn die Skins auftauchen, geht das Tempo in Laufschritt über, die Konfusion steigt und bald startet der Sturmmarsch, der nimmer aufhört. Slapstick wird hart geschnitten mit exzessiver Gewalt. Und im letzten Drittel dreht eine Gattin im Rollstuhl nationalsozialistisch vollkommen durch, kommt es zu einer Schießerei und zahlreichen weiteren Kalamitäten, die sich im spießigen Rahmen dieser standesdünkeligen Bürger-Bagage besonders komisch ausmachen.

Der Roman bleibt dabei immer auch ein Sprachkunstwerk als Spiel mit Jargons. Dem von Rich Kids ebenso wie dem von sich aufplusternden Lokalpolitikern, die sich gar nicht genug abhauen können über Kreisky-Witze. Aber da ich den Inhalt von „Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag“ eh nicht erzählen kann und will, höre ich jetzt auf und sage: „Komm, Herr Waldeck, sei unser Gast und lese, was du uns bescheret hast.“

Fritz Ostermayer, 11.9.2022, Im Sumpf (FM4)



Freakshow von Reich & Schön

Wir schreiben das Jahr 1985,
es ist die die zweite Augusthälfte und in Neustift im Wiener Bezirk Döbling findet der traditionelle Kirtag statt. Auf diesem explodiert ein Schweizerkracher; aufgeschreckt durch den infernalischen Knall, büxt die Hirtenhündin Bonny ihren Besitzern, dem Ehepaar Thomas und Sylvia, in den Wald aus.
Das ist für Thomas insofern besonders blöd, als er mit Parteifreunden von der ÖVP-Neustift auf dem Kirtag verabredet ist, die Zeit sowieso schon knapp wird und er bereits einige solcher Treffen zu seinem nicht unerheblichen karrieristischen Nachteil versäumt hat. So beauftragen Thomas und Sylvia ihre drei Kinder, das Tier zu suchen: Die angehende DJane und Musikerin Lisa, den halbwüchsigen Michael und den 12-jährigen Willy, der als Einziger wirklich an dem Tier hängt.
Willy, von unkontrollierten, heftigen Wutanfällen und bizarren Angstvorstellungen heimgesucht, ist auch als Einziger bei der Suche voll dabei. Seine Geschwister sind gedanklich ganz woanders: Michael quält das dringende Verlangen nach einem Bier; Lisa, die heute bei einer wichtigen Party auflegen soll, überlegt fieberhaft, wie sie wieder zu ihren Platten kommt, die sich ein Bekannter ausgeborgt hat und damit spurlos verschwunden ist.
Während die Kinder im Wald nach Bonny suchen beziehungsweise so tun als ob, brauen sich auf dem Kirtag üble Dinge zusammen: Thomas muss entdecken, dass er in der Partei wieder einmal auf der Strecke zu bleiben droht; Sylvia, die sich immer wieder von ihrem Mann absondert, um heimlich zu rauchen, hat Ärger mit Nachbarinnen.
Unterdessen treiben auf dem Fest zwei gleichermaßen dumme wie brutal gewalttätige Skinheads ihr Unwesen. Wer ihnen in die Quere kommt, ist schlimm dran. Besonders zwei Vereinsfunktionäre der Neustifter ÖVP werden übel zugerichtet - einer glaubt nach Wiedererlangung seines Bewusstseins, Bruno Kreisky zu sein.
Als die Exekutive auf ihre Umtriebe aufmerksam wird, ergreifen die zwei Übeltäter die Flucht, deren Weg sie über den Wald zu einem Haus mit Garten führt. Hier lebt Thomas’ vermögender, geiziger Jugendfreund Herbert mit seiner an den Rollstuhl gefesselten Frau Trudi, die vom Wahn besessen ist, die Russen würden ins Land einmarschieren. Und hier eskalieren die Ereignisse auf blutige Weise.
Der Buchtitel mutet so harmlos und unverbindlich an wie die Schlagzeile einer Bezirkszeitung und camoufliert solchermaßen eine an Giftigkeit kaum überbietbare Satire über menschliche Verstellungskunst und Verblendung, Abgründe und Irrungen, über Hass, Neid, Opportunismus. Die Handlung gibt dabei nur einen groben Raster ab.
Was das Buch ausmacht, nämlich sein Irrwitz, wird forciert durch eine Unzahl von skurrilen Nebenfiguren wie dem Salzgurkenverkäufer, der schon einmal auf die Idee gekommen ist, seine Gurken in die Tränen seiner depressiven Frau einzulegen. Oder einem Pater im Gedankenaustausch mit einem verqueren Wissenschafter, der Einsteins Relativitätstheorie widerlegen und zu des Geistlichen Missfallen partout nicht die Rotweinflasche in seiner Aktentasche herausrücken will.
Oder ein sogenannter geistig abnormer Rechtsbrecher, der - einen solchen Fall gab es in Wien tatsächlich - seine Mutter enthauptet und ihren Kopf in einem Schaufenster ausgestellt hatte, sich nun wegen guter Therapieerfolge auf Freigang befindet und auf einem Karussellpferd reitet.
Dazwischen flicht der Comic-Künstler und Theatermacher Peter Waldeck, der 2017 mit "Die 67 enttäuschendsten Sexfilme aller Zeiten" bei Milena als Romanautor debütierte, Szenen aus der ortsansässigen Mikro-Fauna - vom Leben, Lieben und Sterben von Insekten - und nicht näher belegte Schilderungen vom ersten Neustifter Kirtag 1753 ein: Saufen, Gemeinheiten und hierarchische Rangeleien gab es hier schon immer - und gibt es in allen Organismen, mögen die Einschübe aussagen.
Was das Buch deutlich nicht sein will, ist eine Abrechnung mit der Volkspartei. Dass es hier prominent um die ÖVP geht, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass das "vornehme" Neustift gewissermaßen deren natürliches Habitat ist. Ihre Hochnäsigkeit, ihre Verachtung des Sozialismus - das prägt nicht nur die Politik der Konservativen, das spiegelt auch Döbling. Und so ist die verbindende Klammer des Romans die Verarschung der "besseren Gesellschaft" (inklusive ihres schnöseligen Nachwuchses), die hier unfreiwillig eine große Freakshow ergibt.

Wiener Zeitung, Oktober 2022


Der Bundeskanzler hieß Sinowatz. ÖVPler lachten, man wird sich bald nicht einmal mehr die Sonne leisten können. Die Sonne über Neustift. Das ist jene Weingegend in Wien 19, die heute wegen des Kirtags berühmt ist. Da trägt Wien, das junge Wien, Dirndl und Lederhose und betrinkt sich.
Peter Waldecks Roman spielt in den 1980ern, als der Kirtag ein Trauerspiel mit kandiertem Apfel und Funktionären der Volkspartei war. Schon bevor das Buch verkauft wurde, hieß es: Das wird lustig. So etwas macht Angst.
Aber „Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag“ ist erfreulicherweise nur lustig, wenn sich’s anbietet. Waldeck bändigt ein Durcheinander aus Neureichen, Skinheads, Marienkäfer, verschwundenem Hund und Salzgurke. Wobei dem Salzgurkenmann das Geimpfte aufgeht (wie man in der 17 km entfernten anderen Welt der Simmeringer Hauptstraße sagt): Was dem alles am Kirtag ins Gurkenwasser geworfen wird!

Kurier


Blut und Beuschel im Salzgurkenfass
Peter Waldecks vergnügliche Groteske „Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag“

Wenn die Anwohner des idyllischen Grinzinger Platzl in lauen Sommernächten bei geöffneten Fenstern schlafen können, weil weder tiefergelegte BMW mit Capital-Bra-Beschallung – „Die Bitches woll′n Sex, doch sind nicht mein Niveau“ – noch die Bitches selbst, laut kreischend aus Cabrio-Geilomobilen, im Sekundentakt Himmelstraße und Cobenzlgasse hinaufrasen, dann ist garantiert Neustifter Kirtag.
Peter Waldeck hat über einen Kirtag im Jahre 1985 ein wunderbares Buch geschrieben, ich habe es in der jungen Welt rezensiert.
Wenn die Anwohner des idyllischen Grinzinger Platzl in lauen Sommernächten bei geöffneten Fenstern schlafen können, weil weder tiefergelegte BMW mit Capital-Bra-Beschallung – „Die Bitches woll′n Sex, doch sind nicht mein Niveau“ – noch die Bitches selbst, laut kreischend aus Cabrio-Geilomobilen, im Sekundentakt Himmelstraße und Cobenzlgasse hinaufrasen, dann ist garantiert Neustifter Kirtag.
Jeden Sommer vier Tage Deppenparade am Wiener Stadtrand, die Bitches als Wiedergängerinnen ihrer Ur-Ur-Ur-Uromas aus 1938 brav mit Zöpfchen und Dirndl, die Buam ohne Schirmkappe, dafür in Lederhosen, und statt „fahr‘n ma Kahlenberg“ und cruisen geht’s mit Bus und Bim zum Schnitzel-Fressen. In bester Gesellschaft – Polit-Prominenz, mehrheitlich aus dem rechts bis rechts-rechts-rechts-Lager, dazu der wahrscheinlich bald 100-jährige Richard Lugner mit seiner Entourage aus blutjungen Betreuerinnen. Und über allem unfassbar viel Spaß und Alkohol.
Schuld an dem ganzen Elend ist Kaiserin Maria Theresia, die nicht nur für 16 Kinder mütterlich-milde Gefühle aufbrachte, sondern auch für die Neustifter Weinhauer, denen sie nach einer Missernte die Steuern erließ, und hin und her und blablabla, am Ende gab es jedenfalls den jährlichen Umzug der zum Dank gestifteten Hauerkrone, die wie eine Monstranz zwischen den Heurigen herumgetragen wird, und nun ist das Ganze sogar immaterielles Unesco Weltkulturerbe.
Aber nicht immer schoben sich die Massen durch die längst nicht mehr beschauliche Straße, an der, wie zum Hohn, noch ein paar Buschenschanken kleben. Am 17. August 1985 kam zum Grauen sich in die Bewusstlosigkeit trinkender Österreicher mit und ohne Migrationshintergrund noch die Trostlosigkeit einer schlecht besuchten Veranstaltung hinzu. So zumindest schildert es Autor Peter Waldeck, der selbst in Neustift aufgewachsen ist. 15 Jahre war er damals, das nährt den Verdacht, dass der auf Bier und Mädchen dauerspitze Michael, der mit seinen Eltern Sylvia und Thomas, Bruder Willi und Schwester Lisa zu den Protagonisten der Story zählt, autobiografische Züge haben könnte. Trotzdem ist die ganze Familie, wie überhaupt alle Akteure der Geschichte, mehr oder weniger unsympathisch – eine hervorragende Gelegenheit, sich dem Geschehen ohne falsches Mitleid lustvoll hinzugeben. Denn der Roman beginnt zwar etwas verhalten, aber genau in dem Moment, wo sich ein „so lustig wie ich dachte, ist das Buch gar nicht“ einschleichen will, nimmt der Irrsinn Fahrt auf.
Ein Knall (die Provinz-Skinheads Alex und Gabor mischen den Kirtag auf), und Familien-Angsthündin Bonny ist im Wald verschollen. Für Thomas eine Katastrophe, muss er doch der Karriere wegen unbedingt rechtzeitig zum Umtrunk mit Parteifreunden und möglicherweise anwesenden Parteigrößen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), bevor alle komplett im Öl sind. Dass er einigen Geld schuldet, dämpft die Vorfreude, wird allerdings sein geringstes Problem sein. Sylvia wird sicher nicht suchen, zumal sie den Tierarzt vom Haushaltsgeld zahlen muss. „Das Geld für Bonnys teure Entwurmungstabletten würde ihr für Betäubungsmittel fehlen, wenn sie im Alter mit pochenden Schmerzen im Spital lag.“
Man merkt dem Roman an, dass der Autor auch Theatermacher mit einem Faible für Comics und Popkultur ist. Die Erlebnisse der schließlich zur Hundesuche verdonnerten Jugendlichen werden rasant und in geschickt angeordneten Versatzstücken sowohl mit der Entwicklung von Einzelschicksalen, als auch mit komischen Episoden bis hin zu sich anbahnenden Tragödien verwoben.
Die Figuren sind zwar wenig liebenswert, dafür aber teilweise recht liebevoll gezeichnet. Der von groteskem Jähzorn getriebene Willi, Jung-Dandy Paul mit einer Aggressionen auslösenden Blasiertheit bis zum traurigen Salzgurkenverkäufer Radek, der mit sich selbst über die Optimierung der Gurkenproduktion philosophiert, während er still und heimlich das Hundswürschtl, das ihm die Skinheads ins Fass geworfen hatten, herausfischt, eh es sich ganz aufgelöst hat.
Während Lisa (angehende DJ und endlich ein Auftritt!) per Rennrad verzweifelt nicht nur Bonny, sondern auch ihre gestohlenen Schallplatten sucht, wird auch ihr Vater schließlich rasend vor Wut. Sylvia wird des Betrugs bezichtigt und Bonny (glücklicherweise nur kurzfristig) als Kampfhund „Steinwolf“ von Gabor adoptiert. Zuvor haben die zwei Neonazis den Kassierer der ÖVP so ins Koma geprügelt, dass er sich nach dem Aufwachen künftig für Bruno Kreisky halten wird. Nach der Blutspur, die sie am Kirtag hinterlassen haben, machen sie im Wald weiter – eine regelrechte Splatter-Orgie, an der das Nudisten-Ehepaar Trudi und Herbert nicht ganz unschuldig ist.
Laut Wikipedia wurde das Splatter-Genre übrigens früher im Deutschen als „Blut und Beuschel“ bezeichnet. Beuschel ist eine fragwürdige Wiener Spezialität: Lungenhaschee. Muss man wollen. Im vorliegenden Fall: Ja, unbedingt.

Junge Welt, Eileen Heerdegen, September 2022


Neustifter Kirtag: Schräger Lokalaugenschein mit Peter Waldeck

Zum ersten Mal seit 37 Jahren stattete Peter Waldeck der bummvollen Trachtenparty wieder einen Besuch ab. Unser Autor hat ihn begleitet
Die Mission lautet "Liter, Liter!" und "Zam, zam, zam!".
Nach erfolgreich geschlagenen Schlachten wurde es im römischen Imperium zur guten Sitte, die jeweiligen Kaiser und Feldherren mit Triumphbögen zu ehren. So sind beeindruckende Bauwerke entstanden. Abseits von Glorifizierung waren diese Bogenkonstruktionen zwar von überschaubarem Nutzen, aber architektonischen Machtdemonstrationen wohnt selten ein tieferer Sinn inne. Das Imperium Romanum ging zwar unter, Triumphbögen wurden aber trotzdem bis weit in die Neuzeit hinein errichtet.
Im Wiener Bezirk Döbling – oder genauer im Döblinger Bezirksteil Neustift am Walde – steht auch so eine Art Triumphbogen. Er reicht von einer Seite der Rathstraße zur anderen und ist gut vier Meter hoch. Anders als der Arco di Tito in Rom oder der Arc de Triomphe auf den Pariser Champs-Élysées ist er aber knallrot, aufblasbar, und gleich mehrmals prangt in riesigen Lettern der Schriftzug der Kräuterlimonade Almdudler darauf. Der mit ordentlich Druckluft gefüllte Schlauch markiert Anfang und Ende des Neustifter Kirtags. Er ist wahrlich schwer zu übersehen und eignet sich so perfekt als Treffpunkt.

Spielzeugkiste Popkultur

Mit Peter Waldeck zum Beispiel. Der 52-Jährige hat gerade seinen dritten Roman fertiggestellt. Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag heißt das Buch, der Titel könnte aber genau so gut "Fear and Loathing in Neustift am Walde" lauten. Die Assoziation ist nicht ganz ungewollt, Waldeck liebt die große Spielzeugkiste Popkultur mit ihren Versatzstücken und Textbausteinen.
Darin ist er geübt – etwa als Autor für seine Theatergruppe Casa Del Kung Fu, die im Grenzgebiet zwischen Literatur, Wrestling und Comic zu Hause ist. Viel Lorbeer gab es auch für sein Theaterstück Columbo Dreams, eine Produktion für den Wiener Rabenhof, in der er sich hochkomisch an Peter Falks Inspektorfigur abgearbeitet hat. Das heißt: Es wird wohl schräg und lustig, wenn sich Waldeck nun literarisch ans Kirtagstreiben anpirscht.

Temporeich und comichaft

Im Zentrum seines Romans steht das Ehepaar Thomas und Sylvia mit seinen drei Kindern Lisa, Michael und Willi. Bonny, der Familienhund, ist ausgebüxt und muss gefunden werden. Bis auf den zwölfjährigen Willi, einen präpubertären Choleriker, spürt allerdings niemand die Dringlichkeit, den Köter, "ein strubbeliges Etwas" mit "herzigem Blick" und einer "dahinter lauernder Dummheit", zu suchen.
Mutter Sylvia nicht, denn "drei Kinder waren schon die Hölle, der Hund das Tüpfelchen auf dem i". Vater Thomas nicht, der es wichtiger findet, sich am Neustifter Kirtag mit "Parteifreunden" zu vernetzen, und auch die älteren Geschwister haben eine eigene Agenda. Lisa will ihre DJ- und Musikerinnenkarriere vorantreiben – blöd nur, dass all ihre Platten gestohlen wurden. Und Michael, am besten Wege zum Spiegeltrinker, kämpft vorwiegend gegen sich, seine Geilheit und den Rest der Welt.
Diese Familie flankiert Waldeck mit einem ganzen Arsenal an Figuren, und so werden weit über 30 Personen an diesem Kirtagnachmittag in eine temporeiche, fast schon comichaft arrangierte Geschichte eingewoben. Kreuzt dabei wer (unglücklicherweise) den Weg des ebenso dumm-dreisten wie brutalen Nazi-Skinhead-Duos Gabor und Alex, wird’s schauderhaft.
Dann gibt es selbst für eingesessene Neustift-Prominenz wie Michael Heltau eine auf den Deckel. Und der Schauspieler kommt noch glimpflich davon. Einen ÖVP-Parteikassier erwischen die zwei Neonazis besonders hart. Er wird derart ins Koma geprügelt, dass er sich nach dem Aufwachen für Bruno Kreisky hält. Das alles spielt sich übrigens an einem Samstagnachmittag, dem 17. August im Jahr 1985, ab.

Trachtenfasching

Am 19. August, einem Freitagnachmittag im Jahr 2022, ist Peter Waldeck das erste Mal seit 37 Jahren wieder am Neustifter Kirtag. Er kennt die Gegend in- und auswendig. Er ist hier aufgewachsen. Fragt man Waldeck, wo genau, deutet er mit grobgeografischer Geste hangauf- und stadtauswärts: "Da oben, hinten, drüben." Naheliegend wäre es nun auch zu fragen, wie es denn zu dieser fast vier Jahrzehnte währenden Kirtagabsenz gekommen ist.
Allerdings erübrigt sich so manche Frage, wird man Zeuge, wenn nur wenige Meter von einem entfernt Richard Lugner seine Entourage in Stellung bringt. Der Neustifter Kirtag ist zu einem der größten Events in Wien avanciert, 100.000 Menschen besuchen ihn mittlerweile an vier Tagen.
Da das Wetter mitspielt, ist bereits vor der offiziellen Eröffnung einiges auf der Straße, vor und in den Heurigen los. Burschen und Männer haben sich in Lederhosen geworfen, die nicht selten mit Ralph-Lauren-Hemden kombiniert werden. Mädchen und Frauen haben sich in ihre Zalando-Dirndl geworfen, die nicht selten an entscheidenden Stellen großflächige Tattoos offenlegen. Wer keine Tätowierung hat, braucht aber auch nicht lange traurig sein.
"Mein Vater hat mir Geld fürs Taxi gegeben", sagt ein Lederhosen-Teenager zu seiner Dirndl-Teenager-Begleitung. Wenige Meter später spendiert ihr der junge Galan an einem einschlägigen Marktstand ein Airbrush-Tattoo. Er nestelt dafür umständlich einen 20-Euro-Schein aus der aufgenähten Seitentasche, wo in einem echten Lederhosenleben ein Hirschfänger stecken müsste.
Hier oben am Stadtrand von Wien kommt einiges zusammen, und nicht immer ist es das Beste aus allen Welten. "Es wirkt auf mich alles wie ein riesengroßes Trachten-Cosplay", kommentiert Peter Waldeck dieses merkwürdig karnevaleske Treiben.
Das war früher nicht so. "In den 1980er-Jahren gab es lediglich ein paar Marktstände, ein heruntergewirtschaftetes Karussell und kaum Gäste", erinnert sich Waldeck. An guten Kirtagwochenenden waren es zwischen 3000 und 5000 Gäste steht in Archiven geschrieben. "Ich dachte lange Zeit sogar, dass die Veranstaltung in manchen Jahren auch ausgesetzt wurde. Wegen Trost- und Erfolglosigkeit", so Waldeck.
Aber die Erinnerung ist ein falscher Hund. Tatsächlich fand der Neustifter Brauchtums- und Traditionstrubel in den letzten Jahrzehnten immer statt. Pausiert wurde nur 2020 und im Vorjahr – warum auch immer. Ansonsten gab es stets die Festumzüge mit der "Hauerkrone", den "Flaschlbuam" (seit kurzem auch mit "Flaschlmädchen"), den "Hiatern" (seit heuer auch "Hiaterinnen"), mit Blaskapelle, mit Aufstellen des "Hiatabaums", aber auch einer sonntäglichen Feldmesse.

Absoluter Wirtschaftsstandort

Seinen Ursprung hat das alles übrigens im Jahr 1752. Damals wurden die Weinhauer der Gegend bei Kaiserin Maria Theresia mit der Bitte um Steuererlass vorstellig, denn verheerend geriet in diesem Jahr die Weinlese. Die Kaiserin zeigte sich gnädig, und als kleines Dankeschön schenkte man ihr eine "Hauerkrone", verziert mit silbernen und goldenen Walnüssen, Blumen und Bändern. Diese Krone schenkte die Kaiserin den Neustiftern mit der Auflage zurück, ab nun jährlich einen Kirtag abzuhalten. So ging Wirtschaftsstandortsicherung im aufgeklärten Absolutismus. Jahrhunderte später musste man ein bisschen tiefer in die Trickkiste greifen, um den Wirtschaftsstandort Neustift am Walde zu stärken. Die Kirtagsorganisatoren, zusammengeschlossen im Weinbauverein Neustift am Walde-Salmannsdorf, verlagerten ab den späten 1980er-Jahren das Heurigen- und Kirtagsgeschehen vermehrt auf die Straßen, sperrten diese ab, forderten Besucherinnen und Besucher auf, in Tracht zu kommen, und kümmerte sich um Sponsoren.
Die Zahlen gingen langsam in die Höhe. Und in den 2000er-Jahren ging es dann richtig ab. Aus Gründen, die Kulturanthropologen dereinst noch genauer erforschen werden, schlüpften in diesen verwirrenden Zeiten plötzlich auch urbane Menschen in trachtenähnliche Kostüme, die auf archaische Art primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale in Szene setzen. Seit zwei Jahren gelten der Umzug der "Hauerkrone" und das "Hiatabaumaufstellen" während des Neustifter Kirtags jedenfalls als immaterielles Unesco- Kulturerbe.
Weniger schützenswert ist der Unesco das Saufkulturerbe. Dabei bietet auch das eine nicht uninteressante Palette an traditionellen Begleiterscheinungen wie lauter Musik, grölenden Menschen, Kreislaufkollaps, Raufereien, Vandalismus, Alkoholvergiftung. Auch der Neustifter Kirtag hat in dieser Hinsicht einen Ruf zu verteidigen.
48 Sanitäter und Sanitäterinnen der Johanniter sind täglich im Einsatz. Sie haben ein Zelt für Behandlungen im Hof der Neustifter Kirche aufgestellt, die dem Heiligen Rochus geweiht ist. Er gilt als Patron der Siechenhäuser und wird angerufen, wenn die Pest ausbricht.
Ob auch Anrainer und Anrainerinnen das eine oder andere Stoßgebet in Richtung Rochus schicken, damit die Kirtagspest glimpflich vorüberziehe? Wer kann, rettet sich jedenfalls selbst. "Man hört immer wieder von Neustiftern, die ihren Urlaub so planen, dass sie am Kirtagswochenende weit weg sind", erzählt Waldeck.

Alkoholvergiftungen und Schnittverletzungen

Dafür sind die Einsatzkräfte der Johanniter nah dran. Wenn der Kirtag am Montag vorbei ist, werden sie insgesamt 72 Personen versorgt und 23 hospitalisiert haben. Häufigster Behandlungsgrund: Alkoholvergiftung, gefolgt von Schnittverletzungen. Die Polizei ist übrigens auch sehr präsent. 24 Polizisten und Polizistinnen sind permanent anwesend, bei Bedarf wurden auch weitere Kräfte aus dem Streifendienst hinzugezogen.
Freitag- und Samstagabend ist der Bedarf groß. 18 Anzeigen gerichtlich strafbarer Handlungen wurden heuer verzeichnet. Es wurden vorwiegend Sachbeschädigungen, Körperverletzungen und Raufhandel angezeigt. Dazu kommen 52 verwaltungsrechtliche Delikte wie verkehrsrechtliche Übertretungen, Lärmerregungen und Ordnungsstörungen. Es ging schon einmal wilder zu.
Laut feiern und kräftig über den Durst trinken hat jedenfalls Tradition in Neustift am Walde. Peter Waldeck zieht dafür einen kleinen Beleg aus der Tasche. Oder besser: Er zückt sein Smartphone, auf dem sich dieser Beleg befindet. Es ist ein Zeitungsartikel vom 29. August 1948. Johannes Mario Simmel rechnet in der Tageszeitung Neues Österreich mit dem ersten Neustifter Kirtag nach Kriegsende ab.
Er schreibt: "Einem durchschnittlichen, unauffälligen Bürger wird in der Öffentlichkeit nicht schlecht. (…) Er streichelt auch nicht einen Bernhardiner mit den Worten ‚Ist das ein lieber Wauwau!‘, wenn der Bernhardiner gar kein lieber Wauwau, sondern ein Puch 250 mit Beiwagen ist." Und weiter: "Ein durchschnittlicher, unauffälliger Bürger beispielsweise wackelt nicht. (…) Und er sagt auch einem provisorischen Sicherheitswachebeamten nicht, daß er sich hutschen soll. Auf keinen Fall."

Neongelbe Muskelberge

Provisorische Sicherheitswachebeamte gibt es übrigens auch in der Kirtagsgegenwart. Sie tragen gelbe Westen mit der Rückenaufschrift "Ordnerdienst Weinbauverein Neustift am Walde-Salmannsdorf" und stehen als leicht ungeordneter Haufen unterm aufgeblasenen Almdudler-Torbogen. Es sind ziemliche Kanister darunter.
Beobachtet man sie länger, ohne dabei etwas zu sagen, werden sie ein bisschen unruhig, und es beschleicht einen das Gefühl, als verstünden diese neongelben Muskelberge nicht nur etwas vom Deeskalationsgeschäft, sondern kennen auch die Kehrseite der Medaille. Besser, sich gut mit dieser Weinhauerwehr stellen, sonst landet man vielleicht schneller im Partyzelt der Johanniter, als man Heiliger Rochus sagen kann.
Als Dominik Nepp, der Wiener Landesparteiobmann der FPÖ, durch den Almdudler-Bogen marschiert, grüßt er jedenfalls den neongelbsten und gebirgigsten dieser Ordner mit einem aufmunternd amikalen "Dere, ois fit!?". Nepp weiß, wie’s in Döbling läuft. Er kommt von hier. Er trägt übrigens ein kleinkariertes Hemd zu seiner Lederhose und blitzblaue Stutzen, die in Converse stecken. Der Schnaps, der die Bilder, die dieses höchst verstörende Spiel mit Codes und Zeichen erzeugte, von der Netzhaut zu ätzen vermag, muss aber erst noch gebrannt werden.
Offiziell ist der Neustifter Kirtag keine politische Veranstaltung. Es geht aber alles andere als unpolitisch zu. Bis auf die Grünen haben alle Parteien vor dem Eingang zum Volksfest Werbestandln aufgebaut. Und: "In den letzten Jahren hieß es immer wieder, die FPÖ habe den Kirtag gekapert", erzählt Waldeck. Vor allem Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus kämpften an vorderster Kirtagsfront und buhlten um junge Trachtengeher. Seit Ibiza hat sich das aber erledigt.

Service für Letztwähler

Damals wie heute ist es dennoch nicht unbedingt ratsam, der Spur der blauen Aushängeschilder zu folgen. Man landet zwangsläufig beim Heurigen Eischer, wo im Hinterzimmer Dominik Nepp gediegen Hof hält, es aber vorn, im Raum rund um den Buffetbereich, weniger gediegen zugeht, wenn alte FPÖ-Basis-Recken gratis verköstigt werden. Eine Art Letztwählerservice, das bei weniger hart Besaiteten Unwohlsein triggern könnte.
Überhaupt scheint es, als haben die Parteien am Eröffnungstag die Heurigen unter sich aufgeteilt. Hier die Schwarzen, dort die Blauen, da die Pinken. Trotzdem: Da das türkise Projekt, das sich in den letzten Jahren intensiv um eine Rückeroberung dieses traditionell schwarzen Hoheitsgebiets bemüht hat, auf der Kippe steht, ist am Kirtag irgendwie ein Machtvakuum zu spüren.
An Politprominenz mangelt es zwar trotzdem nicht, die allererste Riege tanzt aber nicht zum Volksfest an. Die Regierung schickte Karoline Edtstadler zur Eröffnung, der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig eine Vertretung. Dafür ist der Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr zugegen, der Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer. Und einiges an Döblinger Lokalpolitikern, die immer wieder betonen, wie stolz sie auf Kirtag und Wirtschaftsstandortsicherung sind.
Kann man auch: Denn bummvoll sind die Heurigen, bummvoll die Straßen und bummvoll die Leute, die um Mitternacht langsam nach Hause geschickt werden. Dann wird aus dem knallroten Almdudler-Triumphbogen, der den Anfang und das Ende des Neustifter Kirtags markiert, die Luft ausgelassen.

Der Standard, ALBUM, Manfred Gram, 26.8.2022


Wir schreiben das Jahr 1985. Als Bundeskanzler regiert ein gewisser Alfred Sinowatz, Alois Mock steht als Obmann der ÖVP vor, in Wien tut dies Erhard Busek. Im Herzen des noblen Wien, im Döblinger Bezirksteil Neustift, hat sich ein eigenartiger ÖVP-Kosmos versammelt, der am berühmten Neustifter Kirtag zu implodieren droht. Und genau hier siedelt Peter Waldeck seinen neuen Roman „Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag“ an.
Es ist eine Geschichte von Intriganten, Kriechern und Mitläufern, die alle eines eint: ihre Mittelmäßigkeit. Über Thomas, eine der Hauptfiguren, schreibt Waldeck: „Was auch immer ihm gelang, es gelang ihm nie alles. Er kam ein bisschen nach oben, aber nicht ganz nach oben. (...) Sylvia liebte ihn, aber sie hielt ihn auch für einen Trottel. Sylvia war schön, aber sie neigte zu Hüftspeck.“
Der Roman beschreibt in kurzen Häppchen die turbulenten Geschehnisse eines Nachmittags auf dem Kirtag aus den Blickwinkeln eines Figurenpersonals, das im Lauf der Geschichte immer mehr zum Freak-Kabinett mutiert. Auch reale Figuren und historische Ereignisse finden Einzug.
Ironie soll vermutlich aus der Fallhöhe zwischen der Gutbürgerlichkeit der (ÖVP-)Schnösel und ih
rer hinterhältigen Unmoral entstehen. Der Plan geht leider nicht auf: Die Geschichte ist zwar gut konstruiert, flott erzählt und in sich stimmig, die Darstellung der korrupten Parteifunktionäre bleibt aber einseitig und gerät nur bedingt lustig.

Oberösterreichische Nachrichten, Herbert Schorn, November 2022

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