€ 25.00

ISBN 978-3-903460-31-7
ca. 220 Seiten
gebunden mit SU und Leseband
Erscheint September 2024

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Peter Waldeck

All der wilde Unfug

Als Viktor an seinen Jugenderinnerungen schreibt, begibt er sich auf tiefgreifende Recherche und besucht nach langer Zeit wieder einmal die exzentrische Mutter seines Jugendfreundes: Tante Erbse. Kaum Erbses Wohnung betreten, wird Viktor schon in den Sog des wilden Unfugs hineingezogen. Erst ein Roadtrip schafft klare Verhältnisse, behaupten kann man es ja.

Clemens und Viktor waren in ihrer Jugend gute Freunde. Dann machte Clemens auf einmal ordentlich Karriere, wurde ein Star, schrieb Bestsellerromane, Bestsellermusik, umjubelte Gedichte, esoterische Eselgeschichten – alles funktionierte. Viktor wurde Theaterregisseur, anfangs alles bestens: Ruhm, Alkohol, Exzesse, dann mit fünfzig Jahren aber: Gedächtnislücken, Tinnitus, sozialer Rückzug.
Als Viktor an seinen Jugenderinnerungen schreibt, begibt er sich auf tiefgreifende Recherche und besucht nach langer Zeit wieder einmal Clemens' exzentrische Mutter: Tante Erbse. Kaum Erbses Wohnung betreten, wird Viktor schon in den Sog des wilden Unfugs hineingezogen. Erst ein Roadtrip schafft klare Verhältnisse, behaupten kann man es ja.

Mit raffinierten Twists und hinterfotzigen Überraschungen ist diese Geschichte über Viktor, Clemens, Tante Erbse, Vati, Hadi, Manni und Giovanni ein dunkler Spaß, der gleichermaßen fesselt und herausfordert.

Seit Jahren war ich das erste Mal unter Menschen – allein unter Menschen, längere Zeit allein unter Menschen –, und es lief so mittelgut.
Giovanni hatte mich mit all seinen rhetorischen Listen bedrängt: »Sechs Jahre müssen reichen. Es wird Zeit. Du hast dich genug bestraft.«
»Niemand wird mich sehen wollen.«
»Norman Mailer stach vor Partygästen zweimal in seine Frau, um ein Haar wäre sie verblutet. Zehn Jahre später kandidierte er für den Posten des New Yorker Bürgermeisters, als wäre nichts geschehen. Raus mit dir, sage ich, an die Arbeit.«
Mich schauderte. Ich konnte mir nicht sicher sein, mit einem fatalen Einfall nicht wieder alles durcheinanderzuwerfen. Aber Giovanni ließ nicht locker.
»Es wird Zeit für die große Entschuldigungsgeste. Das ist doch das Schönste, wenn man sich als Künstler hinstellen und um Ablass bitten kann. Sechs Jahre! Selbst die Leute, die anwesend waren, erinnern sich nicht mehr gut. Du kannst beginnen, die Geschichte zu verbiegen, sie so zu erzählen, dass sie zu deinem Vorteil gereicht. Nicht zu sehr, du willst ja, dass es etwas zu verzeihen gibt … Doch damit das funktioniert, musst du gesund aussehen, die Augen müssen scharf sein, als stündest du mit beiden Beinen im Leben. Du benötigst einen neuen, unverbrauchten Anzug, Farbe im Gesicht, frischen Atem und ein Projekt, ein Projekt!«

Im Dunkeln meiner Wohnung merkte ich erst, wie anstrengend all das Soziale war, wie ermüdend der Kontakt zu Menschen. Ich konnte mühelos mehrere Wochen zu Hause verbringen, mir ging nichts ab, aber eine halbe Stunde im Supermarkt und ich lag wie betäubt auf dem Sofa, die Schweißperlen rollten über meine Stirn, ich atmete laut, maßlos, ich kam mit dem Atmen kaum nach. Nur in Begleitung von Giovanni schaffte ich es: Wenn ich vor Verkäufern zu stammeln begann, setzte er meine Sätze fort; begegnete mir ein Bekannter von früher, bugsierte Giovanni mich in eine Seitengasse und hielt mir den Mund zu.

Giovanni Fausti. Wenn bei dem Namen etwas bei Ihnen klingelt, dann sind Sie entweder ein Connaisseur klassischer Musik oder Sie haben noch die Zeitungsberichte aus den 1990ern im Kopf. Damals war Giovanni als musikalischer Leiter an Bord eines der Helikopter gewesen, in denen in luftigen Höhen Stockhausens Helikopter-Quartett aufgeführt worden war. Auf dem Weg vom Carinthischen Sommer zur Bayerischen Staatsoper verflog sich die Helikopterflotte leider und wurde in den Wirren des Jugoslawienkriegs nahe Zagreb abgeschossen. Zu Fuß machten sich das Quartett, die Piloten, die Tontechniker und Giovanni Fausti auf den Weg zurück nach Österreich. Fast wäre es schlecht ausgegangen, aber Giovanni erwies sich als begnadeter Eierdieb, und so standen die dreizehn mit ihren Instrumentenkoffern und Mikrofonen ausgezehrt, aber mit Dotterresten in den wilden Bärten vor dem österreichischen Grenzschutz und beschwerten sich.

Das Projekt sollte eine Biografie werden, so wollte Giovanni es, eine Kindheitsgeschichte, in der ich subtil Schuld verschieben konnte. Hatte ich denn keine Großeltern gehabt, denen ich eine national-
sozialistische Ader und einen Hammer andichten konnte, der dazu gedient hatte, mich zu erziehen?
Sein Wort war mir Befehl. Ich vertiefte mich und bald kam mir der Einfall, all die Schwierigkeiten meiner Jugend – die ich im Übrigen erfinden musste, es war mir nicht schlecht ergangen – innerhalb einer Nacht am Neustifter Kirtag durchzuspielen. Da konnte ich ein großes Arsenal an Figuren einführen: Großeltern, Nationalsozialisten mit Hämmern, warum nicht?
Kaum hatte ich angefangen, mir künstlerische Notizen zu machen, verließ mich Giovanni. Er flog nach Vilnius und verhandelte dort mehrere Wochen lang mit den Leitern des litauischen Nationaltheaters für Oper und Ballett ein neues Aufführungskonzept. Um angesichts drohender Finanzkrisen die Oper gut auf die Beine zu stellen, hatte er eine Idee entwickelt, die Kosten und Risken signifikant zu verringern: durch Playback.
So blieb ich mit meinem Projekt allein zurück und seufzte. Ich hätte den Roman bereits vor vielen Jahren schreiben sollen; damals war ich noch nicht so kaputt gewesen, nun tat ich mir schwer, Begebenheiten den richtigen Jahreszahlen zuzuordnen. Die Vornamen meiner besten Schulfreunde fielen mir nicht ein.
Ob sich meine Mutter hätte erinnern können, wenn sie noch gelebt hätte? Eher nicht. Mein Vater versuchte sein Bestes, ja, aber er befand sich im Krieg mit seinen Erinnerungen. Minute auf Minute lebte er in unterschiedlichen Anordnungen. Als hätte sich sein Leben in eine Vielzahl von Modulen aufgeteilt, die man beliebig drehen, wenden und aneinanderreihen konnte. Manchmal fiel eines unter den Tisch: Dann hatten wir eben nicht vier Jahre lang in Sievering gewohnt.
So musste ich es also selbst in die Hand nehmen. Ich schwang mich auf mein Rad und fuhr an den Stadtrand von Wien, nach Neustift am Walde, um meine Erinnerungen aufzufrischen.
Bald stand ich vor dem Haus, in dem meine Familie und ich gelebt hatten, ich ging die Waldwege entlang, auf denen ich mit meinem Hund gegangen war, ich besuchte die Gässchen und Wege, die Busstationen, die Häuser alter Freunde und – auf und ab und hin und her – den Sommerhaidenweg, doch in meinem Kopf klingelte es nur leise. Alles war gedämpft.
Obwohl ich nicht mehr soff wie früher – ein paar zeitlich gut platzierte Biere halfen mir durch den Tag –, waren die Welt und ihre
Menschen in Nüchternheit nicht zu ertragen. Alles prasselte auf mich ein, überwältigte mich, wie das Tageslicht einen verschütteten
Kohlekumpel, der nach Monaten wieder an die Erdoberfläche trat. Die Stimmen in Neustift kamen mir zu schrill vor, die Autos übertrieben laut, an jeder dritten Ecke wurden Konflikte ausgetragen. Ich musste all meine innere Kraft aufwenden, um mich in diese Streitigkeiten nicht hineinziehen zu lassen, Fremde am Kragen zu packen. Es tobte in mir. Ich keuchte. Das Geräusch surrte. Hunde waberten. Auch: schwarze Knäuel.
Erträglich wurde es erst, als ich eine Flasche Wodka erwarb und sie in drei Etappen leerte. Nach dem ersten Drittel passten sich meine Sinne an. Die Laute des Außen wurden auf ein erträgliches Maß reguliert. Es schien mir nun, dass nicht alles zur selben Zeit ertönte und ich Unwichtiges an den Saum meiner Wahrnehmung verlagern konnte, wo es mich nicht mehr bedrängte. Mit dem Trinken des zweiten Drittels verschwand die Ängstlichkeit. Das Herz beruhigte sich. Eine gewisse Erleichterung, ja Fröhlichkeit, machte sich in mir breit. Als ich den Rest der Flasche leerte, erwachte mein wahres Selbst; ein bunter Strauß Späßchen erblühte in meinem Kopf, ich wurde zum Kobold, ich leckte den Gehsteig, ich naschte vom Boden des Waldes und brachte die Leute zur Weißglut, indem ich zu singen begann.

In Wien gibt es einen Autor, der seinen Michel Houellebecq und Bret Easton Ellis gelesen hat, es aber nicht bei bloßer Nachahmung belässt. Peter Waldeck ist ihr hiesiger Bruder im Geiste: ein toller Stilist, der das aber nicht auf jeder Seite zeigen muss, weil er auch seinem Faible für Trash freien Lauf lässt. Im Finale seines jüngsten Romans „All der wilde Unfug“ schlägt sich das in einer denkwürdigen Verfolgungsjagd nieder. So können nur Menschen schreiben, die mit Filmen wie „Fantomas“ im Fernsehen aufgewachsen sind.
Der unzuverlässige Erzähler Viktor ist ein ehemaliges Theater-Enfant-terrible mit Hang zu Suff und dummen Streichen. Ein solcher lässt ihn in Ungnade fallen. Waldecks Roman ist weit davon entfernt, nur ein literarischer Jux zu sein. Immer wieder bricht eine tiefe Melancholie durch, die anrührt.

Falter, Dezember 2024



Scherzwieser, einstmalige Lichtgestalt des deutschsprachigen Regie-Theaters hat die besten Zeiten hinter sich. Ein öffentlicher Nervenzusammenbruch - oder super leiwander Scherz - je nachdem, wen man fragt, hat ihn Karriere und Standing gekostet und er sich in einer sechsjährigen Auszeit vom charismatischen Theatermann zu einem aufgeschwappten Couchpotato mit fettigem Haar verwandelt. Vielleicht können ja das Abschlecken des Neustifter Trottoirs oder aber der Impuls-Klau einer Perlenkette die Verhältnisse wieder in die richtige Perspektive rücken?... Weitere Handlung zu erzählen, wäre hier genauso müßig wie fahrlässig, es würde nur den Waldeckschen Erzähl-Irrwitz und Drive zerstören. Ein BZW für alle, die Lust haben, wieder einmal etwas wirklich Außergewöhnliches zu lesen, hier gibt es keinen Text von der Stange, sondern feinsten BZW-Zwirn. Als Vergleichsgröße darf an dieser Stelle vielleicht Heinz Strunk in einer Fußnote bemüht werden, nur dass Sie Bescheid wissen, in welche Richtung der Schonungslosigkeit es hier geht ...

Hartliebs Bücher/ Buch zum Wochenende, Barbara Kadletz, September 2024


Geilheit und Rechthaberei

Esel! Es gibt nachweislich einen eklatanten Eselmangel in der Dichtkunst. Auf die Gachn fallen mir nur ein: der Esel aus einer Fabel von Äsop. Dann Rucio, der Esel von Sancho Pansa, dem treuen Knappen von Don Quijote. Und natürlich die Eselin Pauline und ihr Sohn Werner, die mit Tex Rubinowitz in den Abruzzen herumgewandert sind. Und sonst? Eine große Eselsflaute. Aber zum Glück gibt es Peter Waldeck, dem wir endlich ein erhöhtes Eselsaufkommen in der Dichtkunst verdanken. Konkret in Waldecks neuem Roman „All der wilde Unfug“, den man gelesen haben muss, wenn man die Filme der Coen Brothers schätzt. Und den hysterischen Slapstick eines Louis de Funes. Und die genialen Comics von Eugen Egner. Und Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Und eben: Esel.
Mäuse und Menschen niederschreien – das können sie, die Esel. Ein eher geduldiges Exemplar trottet auch durch die Handlung von „All der wilde Unfug“, dem mittlerweile vierten beim Milena Verlag erschienen Roman des Wiener Autors, Comictexters und Impresarios der wunderlichen Theatergruppe Casa Del Kung Fu. Alle bisherigen Bücher habe ich Im Sumpf gesalbt und gesegnet, und auch dem neuen kann ich nur eine Heiligsprechung in Sachen Komik in der Tragik zukommen lassen. Denn das ist Waldecks Meisterdisziplin: mittelalte Männer in die Scheiße reiten und schauen, wie sie untergehen oder – im besten Fall – bekotet gerade noch einmal davonkommen. Alle hatten sie irgendwann ihre große Zeit, doch die Zeit ging weiter und ließ die einst bekannten Regisseure, Popstars, Kult-Professoren, Schriftsteller und Vice-Magazin-Kolumnisten in ihrem Jammer sitzen. Das Strampeln und Scheitern dieser „Ehemaligen“ besitzt eine Hochkomik, wie sie im deutschen Sprachraum nur ganz selten zu finden ist. Und die den deutschsprachigen LiteraturkritkerInnen bis heute suspekt ist, wegen Unernst und so. Sollen sie in ihrem Betroffenheits-Tümpel trostlos herumstapfen, die Fadsäcke.
Peter Waldeck ist – auch das im Gegensatz zu vielen seiner KollegInnen – ein blendender Stilist, nicht nur im Sinn der Beherrschung literarischer Ausdrucksmittel, das sowieso, sondern auch in dem, was man eine eigene Handschrift nennt, eine sofort wiedererkennbare ästhetische Eigenart, in der dann z.B. der plötzliche Einbruch des Grotesken jeden Realismus torpedieren kann, wie ja auch – ich wiederhole mich – in den besten Filmen der Coen Brothers.
Die Handlung von „All der wilde Unfug“ nacherzählen, ginge auf Kosten eures potentiellen Lesevergnügens, außerdem kommen sich eh zu viele Ebenen in die Quere, um sie halbwegs stringent zu subsummieren. Lieber die Hauptpersonen kurz antippen: da wäre Viktor, der unzuverlässige Erzähler, einstiger Regie-Zampano und – wie er sich selbst beschreibt: wilder Künstler. Wir erkennen bald: Der wilde Künstler ist ein Kindskopf sondergleichen, der durch einen supervertrottelten Streich einen Skandal entfachte, der seine gesellschaftliche Ächtung bedeutete. Seine in Berlin lebende erfolglose Schwester nennt sich als DJ: die elektrische Franzi. Viktors bester Freund Clemens ist zwar schon tot, aber als semigenialer Narr eine Mischung aus gewesenem internationalem Popstar und literarischem Großkotz, der ebenfalls der Ächtung anheimfiel, als sich sein berührender biographischer Bestseller „Das untröstliche Sterben meiner Mutter“ als erstunken und erlogen herausstellte. Seine Mutter lebte bis ins hohe Alter voller Geilheit und Geldgier und wird von allen Tante Erbse genannt. Sie ist das Epizentrum des Romans, die Zentrifugalkraft, die ihre Liebsten immer wieder weit von sich schleudert, nur um sie alsbald wieder anzusaugen mit Heimtücke und Niedertracht. Ihr zweimaliger Ehemann Konrad hat gegen Tante Erbe kein Leiberl. Ihr Herz gehört immer wieder dem Strizzi Hadi, einem kleinkriminellen Lustmolch, der im südlichen Speckgürtel von Wien lebt, zusammen mit seinem kleinen Zoo exotischer Tiere: Pythons, Spinnen, Leguane und ein paar sogenannte Ponykrokodile. Gern vermietet er seinen Tierpark für dekadente Parties und vor allem an Wrestler. Man sieht schon: ein einnehmender Zeitgenosse. Und last but not least: Giovanni Fausti, ein Hochstapler künstlerischer Großprojekte, eins lächerlicher als das andere. Die alle und noch ein paar andere verhaltensauffällige Persönlichkeiten lässt Peter Waldeck aufeinander los, dass die Fetzen fliegen. Ich sag euch: Lest diesen Superroman: All der wilde Unfug.
Geilheit und Rechthaberei – was für eine herrlich ungute Mischung bei der Beiwohnung. Der Epilog dieses Romans ist das durchgeknallteste Showdown, das ich kenne. Auf diesen letzten paar Seiten rast der reine Irrsinn und ich habe beim Lesen selten so gelacht wie bei diesem Fake-Epilog. Liebe Leute, besorgt euch „All der wilde Unfug“ von Peter Waldeck, erschienen im Milena Velag. Und nicht vergessen: Schenken macht Freude. Und sich unterm Christbaum anpinkeln vor Lachen hat auch was. Wollt ich nur gesagt haben.

FM4/ Im Sumpf, Fritz Ostermayer, Oktober 2024


Die geile Erbse
Das Hässliche im Schönen finden: »All der wilde Unfug« – Anarchisches von Peter Waldeck


Mein alter Bekannter Walter war ein begabter Künstler, die nicht ausschließlich selbst verschuldete Erfolglosigkeit hatte ihn zu einem noch begabteren Lügner gemacht. Ein begnadeter Faker, der Interviews erfand, Presse¬berichte fälschte, und sich mit derartiger Arbeit über Wasser halten konnte. Doch auch er fand seine Meister – den Kneipenwirt mit den sicheren Anlagetipps, der ihm den Gewinn nicht auszahlen konnte, weil man ihm sonst die Finger abgehackt hätte, den Untermieter, der nicht zahlte, weil in der Wohnung der Oma, wo ein üppiges Sparbuch für ihn lag, der komplette Strom und somit auch das Licht ausgefallen war, und schließlich der Produzent, der zur Vertragsunterzeichnung nicht kam, weil dem Kind die Zigarettenstummel aus dem Magen gepumpt werden mussten.
Wieviel Walter in Giovanni Fausti steckt, dem legendären musikalischen Leiter der Aufführung von Stockhausens Helikopterquartett in den 1990er Jahren, der den Abschuss in den Wirren des Jugoslawienkrieges nahe Zagreb nur knapp überlebt hatte, wer Betrogener und wer Betrüger ist, kann man sich durch den Roman von Peter Waldeck, »All der wilde Unfug«, erlesen, und wird vielleicht am Ende drauf kommen, dass Zuordnungen, wie auch das ganze Leben, nicht immer einfach sind.
Was Cornwall für Rosamunde Pilcher, ist für Peter Waldeck der Wiener Heurigenort Neustift am Walde. Doch könnte das tägliche Scheitern am Leben ebenso gut in Hamburg, Berlin oder Dresden stattfinden, sicher sogar in Hanau oder Treuenbrietzen.
Ein Karaokeabend: »Und los ging es mit einer blond gefärbten Frau, Ende Fünfzig, die aus allen Nähten platzte und ein flottes Lied im oberösterreichischen Dialekt sang, das unbegreiflicherweise einmal ein Hit gewesen sein musste (…) Etwa zehn Leute nutzten mit Routine das Podium, sie waren versoffen, irgendwie schäbig, übergewichtig, zu alt. Und trotzdem strahlten sie eine merkwürdige sexuelle Wachsamkeit aus. Auf der Wartebank rutschten sie zusammen, nutzten jede Gelegenheit, um einander schmatzende Busserl aufzudrücken; Schenkel wurden geknetet, Haare durchstrubbelt, Hände liebkost. Das Singen der Schlager war nur das Vorspiel, eine Ausrede, um danach übereinander herzufallen.«
Auf zugleich tragische wie urkomische Weise findet Waldeck mit sicherem Griff das Hässliche im Schönen. Das Streben nach Glück wird aufs Dumpfe herabgedampft, Liebe aufs Brünstige, und Spaß auf etwas, das immer weh tut. Mal dem einen, mal dem anderen.
Bei Protagonist und Ich-Erzähler Viktor Scherzwieser waren es immer mehr die anderen. Persona non grata seit einem misslungenen, gewalttätigen Scherz, ist der ehemalige Skandalregisseur nun allein seinem Tinnitus ausgeliefert, Geräuschen, die klingen, »wie ein stummer Mann, der in einem Zigarettenautomaten verbrennt«. Wurde Scherzwiesers Phobie, an Geburtstagsfeiern teilzunehmen, früher als interessant empfunden, merkt längst niemand mehr, dass er seit Jahren seine Wohnung kaum verlässt. Unerkannt besucht er Neustift, leckt Gehsteige, lutscht Kieselsteinchen und eine Kippe, die sich zu seiner Freude als ausgezutzelte Kaugummizigarette mit leichter Restsüße entpuppt, bis der alte »Kobold« erwacht: »Ich brachte die Leute zur Weißglut, indem ich zu singen begann.« – »Die Leute in ihren Villen wollten Nachrichten schauen. Ein Gläschen auf der Terrasse zu sich nehmen. Bei offenem Fenster einander an die Wäsche gehen. Aber da gab es diesen Idioten im Wald, der eine Arie nach der anderen meuchelte. Zu schnell gesungen, spöttisch intoniert, mit Inbrunst erfreute er sich an den falschen Tönen.« Auch eine Bürgerwehr kann ihn nicht stoppen.
Neben Giovanni Fausti, der aber nicht greifbar ist, da er in Litauen die Oper zur kostengünstigen Umstellung auf Vollplayback berät, bleibt Nenntante Erbse, später vor allem »die geile Erbse«, nahe¬zu einziger Kontakt. Der zur bunten, flirrenden Erbse gehörende Onkel Konrad »war wie Sägespäne, Knäckebrot, ein Knäckebrot im Sarg. Es musste etwas Sexuelles sein, das die beiden verband, eine Vorliebe für eine besonders selten verbreitete sexuelle Spielart, etwas, wonach man anschließend Schmerzen hatte und verstört war. Das war es zumindest, was ich mit dreizehn dachte.«
Doch so fad kann niemand sein, dass Menschen nicht glauben, was sie glauben wollen. So schafft es Knäckebrots Sohn Clemens, Rockstar und Scherzwiesers Schulfreund, seinen Vater aus einer Laune heraus bei einer Show als Neil Young zu präsentieren: »Onkel Konrad war das nicht recht. ›I’m his father‹, korrigierte er mehr als einmal die falsche Vorstellung, aber die Leute nahmen das nicht wörtlich, sondern eher poetisch … Auch wusste niemand genau, wie Neil Young zu dieser Zeit aussah, wirklich jung hatte er ja nie gewirkt.«
Die geile Erbse hingegen hatte einfach seit jeher einen gigantischen Liebhaberverschleiß. Dass sie schließlich nicht von einem potthässlichen Ungustl namens Hadi loskommt, der ein Sinnbild für die unappetitliche bis bedrohliche, durch das Buch hindurchwabernde Sexualität sein könnte, legt die Vermutung nahe, dass die Tante weniger nymphoman als maximal verzweifelt sein könnte: »Hadis Schlafzimmer war das eines Mannes, der niemandem mehr etwas beweisen musste. Der wusste, dass in diesem Quartal keine Frauen mehr zu Besuch kommen würden, und wenn doch, dann waren sie blindgesoffen vom Tankstellenwein.«
Dass Lug und Trug, Scheitern und Selbstzerstörung außerordentlich witzig sein können, beweist Peter Waldeck mit einem durchgeknallten Plot und vielen feinen Ideen und Formulierungen. »Die Fenster hielt ich zuerst für Milchglas, dabei waren sie einfach mit Küchenfett verschmiert.«
Am Ende ein achterbahnwürdiger Showdown, der Leser kann sich an einem gigantischen Polterabend berauschen. Da bleibt nichts heil, man darf auf das Neue, das Gute, hoffen. Und ich frage mich, ob meine Sandkastenfreundin Ingrid vielleicht doch noch lebt, nachdem sie damals wegen einer Wespenallergie ins Krankenhaus musste, just als sie mir die geliehenen 200 Mark zurückgeben wollte.

Junge Welt, Eileen Heerdegen, Oktober 2024


Tante Erbse und die starken Männer
Komödie. Viktor war früher erfolgreicher Theaterregisseur. Nun versucht er nach
Jahren des sozialen Rückzugs, seine Erinnerungen aufzuschreiben.
Im Mittelpunkt stehen sein Freund Clemens und dessen Mutter, die exzentrische, nymphomane Tante Erbse und ihre Männer. Alles gipfelt in einer wilden, unterhaltsamen Verfolgungsjagd mit überraschendem Ausgang.
KURIER-Wertung: 4/5

Kurier, GRA, September 2024


Ein trashiges Pointenfeuerwerk

Auf die Idee muss man erst einmal kommen. Um der litauischen Oper unterstützend unter die Arme zu greifen, schlägt ein den Regisseur spielender Protagonist des Romans All der wilde Unfug vor, Geld zu sparen, indem man eine Inszenierung einfach im
Vollplayback über die Bühne gehen lassen könnte. Die Noten und die Handlung seien ohnehin bekannt. Warum groß ein Orchester en-gagieren? Immerhin, das gilt als wesentlicher Vorteil so einer schlanken Aufführungspraxis, würde sich so die Sache entschieden billiger und ohne jedwede falsche Töne gestalten.
All der wilde Unfug, der aktuelle Roman Peter Waldecks, ist voll von in sympathisch altertümlich-bildungsbürgerlicher Sprache gehaltenen Geschichten, die das Leben schreiben könnte, wenn es nur ein wenig effizienter angelegt worden wäre. Der Wiener mit einem Hang zum Trash wurde ab den 1990er-Jahren mit seinem theatralischen Kampf-kommando Casa Del Kung Fu als „Verein zur Förderung subventionierter Kultur" nicht nur mit legendär-schrottigen Stücken wie Fantomas - Das Action Musical oder Das geheime Fickleben des Bruce Lee bekannt. Mit Romanen wie Die 67 enttäuschendsten Sexfilme aller Zeiten (groß!), Triumph des Scheiterns (großartig!) oder zuletzt dem autobiografisch gefärbten Schlüs-sellochwerk Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag (jenseits!) drang er auch literarisch in die erste Liga hochkomischen Schabernacks vor.
In All der wilde Unfug berichtet Waldeck von Musikern, die sich im Rahmen einer Aufführung von Karlheinz Stockhausens berühmtem Helikop-ter-Streichquartett mit dem Hubschrauber in den Wirren des Jugoslawien-kriegs verirren und sich dann als Eierdiebe bis zur österreichischen Grenze durchschlagen. Es wird bei Karaokeabenden in Wiener Vorstadtloka-len gesoffen, was das Zeug hält. Waldeck erzählt über eine Jugendfreund-schaft, die im Alter in Neid und Wodka ersäuft. Und es geht auch darum, wie man auf der Suche nach dem verlorenen Glück der Jugend stockbesoffen an Gehsteigen im Wiener Nobelviertel Neustift leckt, um sich die guten alten Zeiten zurück ins Gedächtnis zu rufen. Das ist nicht alles. Vieles mehr kann man in diesem pointenreichen Roman nachlesen.

Der Standard, Christian Schachinger, Dezember 2024

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