€ 20.00

ISBN 978-3-903460-38-6
ca. 120 Seiten
gebunden mit SU und Leseband
Erscheint Februar 2025

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Wolfgang Hermann

Herr Faustini und die Glatze der Welt

Ein neues Abenteuer für Herrn Faustini, das unscheinbar beginnt und ihn unversehens aus seinem gewohnten kleinen Leben hinausträgt, und zwar in die Großstadt Wien, wo er den Narrenturm besucht und eine geheimnisvolle Frau kennenlernt.

Von der Frage, ob die gehäuft gesichteten Glatzen ein Sinnbild der geschundenen Erde mit ihren kahlgeschlagenen Wäldern sei. Von der Begegnung mit dem traurigen Martin, der sich mit einem Eichhörnchen in Gesellschaft Herrn Faustinis aufmacht ins ferne Wien seiner Jugend, wo er einst seine Liebe fand und wieder verlor. Bis zur Erkenntnis, dass das Leben sich manchmal dem öffnet, der der Tigerwolke über einer düsteren Straßenschlucht folgt und so, Wunder über Wunder, in den Armen des ersehnten Menschen landet.
Von all dem ist in Herrn Faustinis Abenteuer die Rede, und auch von der wunderbaren inneren Ruhe, die einen unverhofft überkommt, wenn man sie am wenigsten erwartet.

„Als Herr Faustini zurück ins Haus trat, brauchte er ein wenig Lärm. Er schaltete den Fernseher ein. Gerade in diesem Moment sagte einer, der aussah, wie man sich einen weisen Mann vorstellt, die um sich greifende frühzeitige Glatzenbildung junger Männer hänge ursächlich mit der Rodung und Verwüstung weiter Flächen unseres Planeten zusammen. Die Ähnlichkeit einer Glatze mit der entblößten, vergewaltigten Erde liege doch auf der Hand, wer sehen könne, der sehe genau hin. Die Erde räche sich, indem sie die jungen Männer früh ihres Kopfhaares beraube, Sinnbild der geschundenen, kahl geschlagenen Erde.“
(Aus dem Text)

Herr Faustini sah im Fernsehen, wie riesige Fällgreifer in Alaska Bäume umklammerten, absägten, entasteten, schälten und zerkleinerten, als wären sie Zahnstocher. Herrn Faustini beschlich dabei ein mulmiges Gefühl. Diese mächtigen Bäume hatten mehr als ein Menschenleben lang ihren Schatten auf den Waldboden im fernen Alaska geworfen, um nun im Minutentakt zu verschwinden. Herr Faustini glaubte den Aufschrei der Erde zu spüren, der diese Maschinen ihre Kinder entrissen. Er richtete sich so ruckartig in seinem Ohrensessel auf, dass der Kater von seinem Schoß sprang. Herr Faustini hatte den Gedanken der alten Naturreligionen, die Erde sei als Ganzes ein Lebewesen, schon immer anziehend gefunden. Denn wer die Erde als Spenderin allen Lebens, als Mutter verehrte, der fügte ihr nicht solche Verletzungen zu, wie der moderne Mensch es tat.
Herr Faustini schaltete den Fernseher aus und trat auf die Terrasse. Der Kater strich durch den Garten, blieb stehen, drehte sich um und miaute, als würde er Herrn Faustini auffordern, es ihm gleichzutun. Der Garten lag in Dunkelheit, dorthin folgte Herr Faustini jetzt dem Kater, der durch die Hecke kroch, um seine nächtliche Inspektionsrunde anzutreten. Viel Glück auf deinen Katerwegen, flüsterte ihm Herr Faustini hinterher, und Freude soll auch dabei sein!
Herr Faustini legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Sommernachthimmel. Die Tage der Perseiden rückten näher, und tatsächlich glühte schon die erste quer über den Himmel. Für Herrn Faustini, der süchtig nach den klaren lauen Sommernächten war, war nicht Weihnachten oder Silvester der Höhepunkt des Jahres, es waren die Perseidennächte mit ihren lautlos über das Firmament sausenden Feuerschweifen verglühender Kometen.
Ach Unendlichkeit! Herr Faustini hatte vor vielen Jahren einer Bekannten bei einem Nachtspaziergang in den Bergen während der Perseidennächte die Sternschnuppen gezeigt, die alle Augenblicke übers Firmament rasten. Er hatte geschwärmt von diesem Schauspiel, während seine Begleiterin mit jeder Sternschnuppe übellauniger geworden war. Auf Herrn Faustinis Frage, ob es ihr gut ginge, hatte sie erwidert, sie ertrage den Blick in die Unendlichkeit des Universums nicht, weshalb sie üblicherweise Nachtspaziergänge unter wolkenlosem Himmel meide. Nur seinet- und ihrer guten
Bekanntschaft wegen habe sie die Einladung zum Perseiden-Spaziergang angenommen. Denn eigentlich hasse sie Spaziergänge unter wolkenlosem Nachthimmel, sie machten ihr Angst. Und zwar nicht, weil die Nacht im Allgemeinen ihr Angst mache, vielmehr sei es der Blick ins Universum, der ihr unerträglich sei.
Herr Faustini entschuldigte sich dafür, dass er sie, ohne an die Folgen zu denken, in die Perseidennacht auf den Berg mitgenommen habe. Er habe angenommen, eine solche Nacht der tausend Sternschnuppen würde ihren Gefallen finden.
Nicht im Geringsten, erwiderte die Bekannte schroff. Herr Faustini ersparte sich ein Aha oder Soso oder Weshalb. Er sagte gar nichts. Von selbst sagte die Bekannte schließlich mit leicht belegter Stimme, der Blick ins Universum sei für sie unerträglich, denn er zeige ihr, wie klein und nichtig ihr Leben sei. Diese Vorstellung mache ihr Angst, und auf Angst reagiere sie nun einmal mit Wut, das sei die wohl gesündeste Reaktion darauf, ob er, Herr Faustini, das nicht auch so sehe.
Gewiss, gewiss, hatte Herr Faustini gemeint, er sehe das genauso, wobei er das nur aus Höflichkeit behauptete. In Wirklichkeit war er beunruhigt über den Geisteszustand seiner Bekannten, die er in dieser lange zurückliegenden Nacht so rasch wie möglich vom Berg herunter und nach Hause vor ihre Tür gebracht und sich fluchtartig aus dem Staub gemacht hatte. Er hatte keine Minute von der wertvollen Perseidennacht verlieren wollen, so mochte es sein, dass er gegen seinen Höflichkeitskodex verstoßen und seine Bekannte ratlos zurückgelassen hatte. Jedenfalls fand er damals, als er später in der Stille der magischen Nacht allein am Seeufer stand, sein Gleichgewicht wieder. Von seiner Bekannten hörte er freilich nie wieder ein Sterbenswort.

Als Herr Faustini zurück ins Haus trat, brauchte er ein wenig Lärm. Er schaltete den Fernseher ein. Gerade in diesem Moment sagte einer, der aussah, wie man sich einen weisen Mann vorstellte, die um sich greifende frühzeitige Glatzenbildung junger Männer hänge ursächlich mit der Rodung und Verwüstung weiter Flächen unseres Planeten zusammen.
Die Ähnlichkeit einer Glatze mit der entblößten, vergewaltigten Erde liege doch auf der Hand, wer sehen könne, der sehe genau hin. Die Erde räche sich, indem sie die jungen Männer früh ihres Kopfhaars beraube, Sinnbild der geschundenen, kahl geschlagenen Erde.
Herr Faustini ging rasch ins Badezimmer, neigte vor dem Spiegel seinen Kopf und betastete ihn, teilte mit beiden Händen eine Locke und forschte nach Spuren des Haarausfalls. Gott sei Dank sah sein Kopf noch nicht aus wie die geschundenen Wälder Alaskas. Aber hatte der weise Mann nicht gesagt, die Rache der geschundenen Erde treffe vor allem junge Männer, aus denen sie Glatzköpfe mache? Nun, Herr Faustini war kein junger Mann mehr, und ob ihn die Weltglatze in seinem Alter in seinem stillen Haus in der Abgeschiedenheit noch finden würde? Selbst wenn: Der Kater würde sich an Herrn Faustinis neuer Glatze nicht stören. Musste man sich die Menschheit der Zukunft als Glatzköpfe vorstellen?

Diesmal fährt Wolfgang Hermanns Herr Faustini im Zug nach Wien. Eine fantastische Reise auf der Suche nach der gelebten Zeit.
Mit einem schelmisch-kindlichen Lächeln sitzt „Opa Himmel“, steinalt, auf der Bahnhofsbank und zieht an seinem Krummen Hund. Ein kleiner Bub sitzt neben ihm, in seiner Hand Karamellzuckerl. Beide mit dem unaufgeregten Glanz stiller Zufriedenheit in den Augen. Ein mit der Nostalgie liebäugelndes Bild aus einer fantastischen Kindergeschichte? Nicht ganz; Herr Faustini ist wieder da.
Mit seinem Hang zur Neurose, zur Melancholie, zum Einzelgängertum wirkt er etwas wunderlich, wenn er zum Beispiel in einer (österreichischen) Wirtsstube dem Bier Hagebuttentee vorzieht oder seinen Vornamen stets hütet wie einen geheimen Schatz, oder gar unzeitgemäß, wenn er die Bibliothekarin in der heimischen Bücherei noch immer „Fräulein“ ruft. Im Gegensatz zum Konformisten, dem Normalo par excellence, ist er aber ein liebenswerter Sonderling und dabei so gut wie schon immer aus der Zeit gefallen. Die Figur des Herrn Faustini stattet ihr Schöpfer mit einem ganz besonderen „Ideal“ aus: „unbedeutend im Verborgenen leben, und ganz für sich, im Schatten, heimlich ein stilles und zufriedenes Leben leben, erhobenen Hauptes – in einem Vorarlberger Dorf an der Schweizer Grenze“.
Auch im sechsten Band seiner Erzählreihe, die der Schriftsteller seinem Protagonisten widmet, kommt etwas Grundsympathisches zum Ausdruck: der Wunsch nach mehr Zurückhaltung, was die Bedeutung der eigenen Existenz angeht; und dass in jedem Antihelden auch ein Held stecken kann. Ist Herr Faustini zwar gern allein zu Hause und vertieft in Lektüren und sich selbst, während sogar sein Kater zur Nachbarin mit der „Etagenfrisur“ ausbüxt, so bewirkt eine zufällige zwischenmenschliche Begegnung meist eine unerwartete Wendung und bildet den Auftakt für ein neues „Herr-Faustini“-Abenteuer: Auf dem Heimweg mit Michael Endes „Jim Knopf“ unterm Arm, die Welt seiner Kindheit im Kopf, lernt Faustini diesmal in einem Bahnhofscafé den glatzköpfigen Martin kennen, dessen Meinung zu allzu Katholischem im Namen des Eichhörnchens auf seiner Schulter, „darf ich vorstellen: Luther“, manifestiert scheint.
Ein paar Tage später machen sich die beiden ohne Eichhörnchen auf den Weg nach Wien, in dem nichts mehr ist, wie es einmal war. Der Trip wird zur Reise nach Wien, in dem nichts mehr ist, wie es einmal war. Der Trip wird zur Reise auf der Suche nach der gelebten Zeit: „Das Gute an der Zeit ist, dass sie vergeht“, behauptet Faustinis Reisebegleiter, der wehmütig auf persönliche Begegnungen
zurückblickt, auf das „Schöne, das die kleinste Dauer zeigt“, während in der Währinger Straße für den Zeitenwanderer Faustini Doderer wieder gegenwärtig wird.
Ein bisschen wie ein Märchen (aber ohne Attitüde der Belehrung) liest sich der neue alte „Herr Faustini“. Erinnerungsbilder aus Kindheit und Jugend gleiten wie auf Emma’schen Lokomotivschienen durch sein Gedächtnis – wie die Begegnung mit dem Uralten, den alle nur „Opa Himmel“ nannten, „Gott heatt mi vergässa“, eine Handvoll Manner Stollwerk, aber auch der Tadel des Vaters und dessen
„scharfe Zähne“, die „bedrohlich gegeneinanderscharren, bei weit aufgerissenem Mund“, der gewalttätige Pater Jonny mit dem „Blick eines Habichts“ oder jugendliche Reisen im klapprigen VW-Bus und das „Blitzen in den Augen“ einer Dame, die juvenile Schwärmereien in dem jüngeren Faustini
hervorriefen.
Und in nichts erkennt der ältere Herr Faustini den Spross der Welt mehr als in einem Kinderlachen und der Freude, die dieses begleiten. Ein staunender Beobachter ist er, ein bedachter Zuhörer, ein Philanthrop – ein Jim Knopf im (Vorarlberger) Lummerland, der immer wieder loszieht, um mit Idealismus und Ironie die Welt zu erobern, und das mit rosigen Wangen: „Wenn du noch erröten kannst, dann bedeutet das, dass das Kind in dir nicht ganz ausgelöscht ist.“

Die Presse, Evelyn Bubich, Mai 2025



Wolfgang Hermann «Herr Faustini und die Glatze der Welt», Milena
Herr Faustini ist das, was man einen Müssiggänger nennen kann. Ein Mann der Sorte Mensch, der sich nicht hetzen lässt, der weder getrieben noch geschoben wird von all den Errungenschaften der Neuzeit. Ein überaus sympathisches Fossil. Ein überaus sympathisches Buch!


Nicht dass ich die Bezeichnung „Fossil“ im Zusammenhang mit dem Wesen und der Erscheinung Herr Faustinis als Schimpf verstehe. Wie gerne würde ich mir von diesem feinsinnigen Mann die eine oder andere Scheibe abschneiden. Weil er ein Suchender ist, der sein Leben nie der Suche verschreibt, weil er mit offenen Sinnen und fast kindlichem Wesen durch eine Welt geht, die so ganz anders funktioniert, sieht und findet er die kleinen und grossen Paradiese des Seins. Auch wenn dieser schmale Roman kein Märchen ist und alles auf dem Boden der Realität bleibt, hat die Geschichte etwas Märchenhaftes. Es ist eine Suchwanderung, die Geschichte eines Mannes, der sich auf Begegnungen einlässt, die ihn auf seltsame Weise immer weiter bis zu seinem Glück führen.
Ich traf mich mit dem Autor vor einiger Zeit in Wien, der Stadt, in der er wohnt und schreibt. Er führte mich in ein Restaurant hoch über den Dächern der Stadt, wo wir bei einem Glas Wein von unseren Leben erzählten. So wie Wolfgang Hermann in seinem Roman über Herr Faustini. So wie der Autor ist Faustini im Vorarlbergischen am Bodensee aufgewachsen und in Wien hängen geblieben. Herr Faustini ist passionierter Spaziergänger und Beizensitzer. Unterschiede zwischen Hermann und Faustini gibt es viele, Gemeinsamkeiten bestimmt auch. Faustini trinkt mit Vorliebe Hagebuttentee in Gasthäusern, in denen meist Bier oder billiger Wein getrunken wird.
In einem solchen Gasthaus trifft Herr Faustini den Mann mit der Glatze, Martin, der ihm seine Geschichte erzählt. Martin und Luther. Luther, ein Eichhörnchen, das er stets mit sich trägt. Die Geschichte wie er noch als Junge in ein Irrenhaus in Wien abgeschoben wurde, unverstanden weggesperrt. Wie er in jenen kalten Mauern seine Liebe fand, eine junge Frau, etwas älter als er. Wie man sie erwischte und auseinanderriss. Wie man ihnen verbot, Kontakt miteinander aufzunehmen. Wie er sie verloren habe und die Erinnerungen  keinen Tag in seinem öden Leben verblassen. Er bittet Faustini, ihn nach Wien zu begleiten, jene Orte aufzusuchen in der leisen Hoffnung, vielleicht doch noch Spuren seiner grossen Liebe zu finden.
Und weil Herr Faustini Herr Faustini ist, sitzen sie schon am nächsten Tag im Zug unterwegs in die grosse Stadt am anderen Ende des Landes. Dorthin, wo Faustini einst mit seiner grossen Schwester und ihrem damaligen Freund seine erste grosse Reise machte, später noch weiter, auf die andere Seite des eisernen Vorhangs, wo die Städte im Russ beinahe erstickten. Beide Männer kehren auf ihre Weise in die grosse Stadt zurück, eine Stadt, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. In eine kleine Pension, in der sich die beiden unterschiedlichen Männer wieder verlieren und Faustinis Reise über Wiens Gruselkabinett zu seinem Glück ein fulminantes Ende findet.
„Herr Faustini und die Glatze der Welt“ ist der sechste Faustini-Roman. Wer einmal dem Charme dieses schrulligen Einzelgängers erlegen ist, freut sich unweigerlich auf ein neues Kapitel in der seltsam abgerückten Welt des Herrn Faustinis. Wolfgang Hermann Faustini-Romane sind etwas Eigenständiges. Seine Art des Sehens, des Begegnens mit Dingen und Menschen führt Faustini an Orte, in Zonen, die den Gehetzten und Geschobenen verborgen, verschlossen bleiben. Faustini, ein Menschenfreund durch und durch, von kindlicher Ehrlichkeit, durchdrungen von Vorsicht und Respekt, ist ein Mann, der unerschrocken an das Gute glaubt, auch wenn er hinsichtlich der Zukunft mit der Dummheit der Menschen nur schlecht zurecht kommt. Ein Mann, der Ordnung in der Welt sucht. Ein Mann, der schon als Kind Herr Faustini gewesen sein muss, ein Aussenseiter, der sich nicht darum schert, einer zu sein.

Literaturblatt.ch


Dass es am anderen Ende des Landes einen gewissen Herren Faustini gibt, dürfte sich herumgesprochen haben. Auch wenn man keines der vorangegangenen Faustini-Bücher des aus Vorarlberg stammenden Autors Wolfgang Hermann gelesen hat – sein Protagonist wirkt von der ersten Seite an vertraut. Ein Mann im fortgeschrittenen Alter, distinguiert, irgendwie eigenbrötlerisch, wach, aber auch ein „alter Depp“ wie er sich in „Herr Faustini und die Glatze der Welt“ einmal selbst ein wenig kokett tituliert. Faustini sitzt in Hörbranz am Bodensee mit Katze und Fernseher, der gerade von der Abholzung der Wälder Alaskas berichtet. Der Fernseher wird ausgeschaltet, der Kater schnurrt. Herr Faustini betrachtet den sommerlichen Nachthimmel, die Perseiden sind im Anflug. Mit einem „Ach die Unendlichkeit!“ setzt ein das ganze Buch durchziehender Erinnerungsstrom ein: an eine Frau etwa, der Faustini einst das Meteoriten-Spektakel vorführte, die sich ob des kosmischen Schauders ängstigte und fürderhin nichts mehr von sich hören ließ. Es bedarf der schreiberischen Fingerfertigkeit eines Wolfgang Hermann, um von der ewigen Stille der unendlichen Räume des Nachthimmels, die uns laut Blaise Pasacal schauern macht, zurück auf den Boden der Realität und der Erzählung zu finden. Und zwar auf schnippische Weise: Herr Faustini beäugt im Badezimmer die Stelle, an der ihm die Haare ausfallen.
ZITAT:
„Die Ähnlichkeit einer Glatze mit der entblößten, vergewaltigten Erde liege doch auf der Hand, wer sehen könne, der sehe genau hin. Die Erde rächt sich, indem sie die jungen Männer früh ihres Kopfhaares beraube, Sinnbild der geschundenen, kahl geschlagenen Erde. (…) Nun, Herr Faustin war kein junger Mann mehr.“
Ein erster Gang führt Faustini in die Dorfbibliothek zur launischen Frau Ingrid, mit der sich`s der Bücherwurm – genauer gesagt der Bücherhund - nicht verderben will. Denn Herr Faustin erschnüffelt Bücher regelrecht. Das Objekt seiner Begierde ist diesmal „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Als er sich die geliebte Kindheitslektüre zu Gemüte führt, ist es als würde in seinem Inneren eine Blume blühen. Wolfgang Hermann scheut derartiges Pathos nicht, im Gegenteil: dass noch mehr davon möglich ist, stellt sich gleich am nächsten Morgen beim Kirchgang heraus. In der örtlichen Bergkapelle verschwimmen beim Anblick einer Verkündigungsszene mit Erzengel und Maria Fantasie und Realität: Herr Faustini wähnt sich nicht nur aus der Zeit gefallen, überdies taucht noch ein alter Mann auf, der „in Zungen spricht“. Ist es ein, Traum? Ein Traum – was sonst! Wenn es im Himmel über Berlin einen Engel gibt, warum nicht auch am Bodensee! Außerdem steht da der schöne Satz:
„Das viele Gold des verschnörkelten Barockaltars ließ ihn nichts empfinden, jedes Gefühl glitt an der kalten Oberfläche ab.“
Auf den knapp einhundert Seiten von „Herr Faustini und die Glatze der Welt“ setzt dann – obwohl es eigentlich nur nach Wien geht - eine Reise durch die ganze Welt ein. Vergangenheit, Erzählzeit und Zukunft werden dabei meisterhaft ineinander verwoben. Da sind einmal die Erinnerungen – an einen qualvollen Schulalltag mit Nazilehrer, der die Kinder gerne „Ich hat einen Kameraden“ singen lässt, an Stollwerck und Schwedenbomben, aber auch an einen sadistischen und pädophilen Pater im Gymnasium des Klosters Mehrerau. Eine andere Erinnerung handelt von einer frühen der Fahrt mit Schwester und deren Freund nach Wien im VW-Bus. Später sollte besagte Schwester noch versuchen, den Bruder in die Welt der Reichen und Schönen zu verkuppeln, der aber lieber zurückgezogen am Bodensee weiterlebte: „ein Künstler des geheimen Lebens inmitten der grauesten Ödnis“ wie es da heißt. Sprung in die Gegenwart der Erzählung: Herr Faustini liest im Hörbranzer Bahnhofscafe den anwesenden Gästen aus dem heute nicht mehr polit-korrekten „Jim Knopf“ laut vor. Mit einem der Gäste, dem punkigen Martin, bricht Herr Faustini schließlich auf. Geschniegelt und gekampelt, schließlich könne man in der „alten Kaiserstadt“ nicht in verbeulten Hosen und ungebügeltem Hemd aufkreuzen. Martin und Herr Faustin haben eine Mission: Der Spur der eigenen Vergangenheit in Wien noch einmal nachzugehen. Martin ist auf der Suche nach einer seinerzeitigen Bekanntschaft aus der Psychiatrie, Herr Faustini treibt der seinerzeitige Blickwechsel mit „einer eleganten Wiener Dame“ um:
ZITAT:
„Sie hatte Fantasien in ihm, dem Jugendlichen, geweckt. Wie sie ihn damals ansah, daran erinnerte er sich noch, als wär`s gestern gewesen.“
Der fast touristische Gang führt durch Wiens Innenstadt, vorbei am Stephansdom, ins Cafe Bräunerhof, dessen Zeitungslesern ein Denkmal gesetzt wird, weiter geht es zum Heldenplatz und in den Volksgarten. Im Landtmann fand einmal eine Begegnung mit dem Vater statt, die Faustini nur sprachlos zurückließ. Weiter zum Unicampus – der Besuch bei den pathologisch-anatomischen Monstren im Narrenturm wird von Faustinis Erinnerung an einen schweren Farradunfall samt Gehirnerschütterung begleitet.
ZITAT:
„Herr Faustini fror beim Gedanken, dass nichts von allem, was er erlebt hatte, nicht von den vielen Begegnungen in seinem Leben bleiben würde“
, heißt es da in einem kurzen existenzialistischen Anflug. Nicht zufällig taucht an dieser Stelle die Erinnerung an den pfeifschmauchenden Philosophieprofessor auf, mit dem Herr Faustini damals die Zeit verplemperte. Voller Selbstironie erlaubt sich der Erzähler einen Sidestep aus dem Wien im Kalten Krieg der frühen 1980er Jahre ins noch depressivere Prag – schließlich ruft er sich zur Ordnung. Es ist Zeit, aus der Tiefe der Zeit, wie es bei Doderer hieß, in die Gegenwart zurückzukehren. Das geschieht stadtauswärts, am Kutschkermarkt in Währing: Eine Unbekannte im königsblauen Kleid tritt auf den Plan. Ihr Blick begegnet dem seinen, sie hält einen langen Augenblick inne, als erkenne sie ihn wieder. Der märchenhafte Schluss sei nicht verraten – nur so viel: „Herrn Faustini war weltlicher zumute“, heißt es am Ende. Wolfgang Hermanns „Herr Faustini oder die Glatze der Welt“ ist – trotz der knappen einhundert Seiten – mehr als ein literarisches Kleinod. Ein wenig ist es, als wollte der Mann ohne Eigenschaften noch einmal Zögling Törleß sein. Ob er dessen Verwirrung loswird, bleibt als Frage. Jedenfalls handelt es sich bei diesem Buch um einen der schönsten Wien-Romane der letzten Jahre.

Ex Libris, Ö1, Erich Klein, 20. April 2025


Die männliche Glatze als Einstiegswalzer

Mit einer Figur steht das Schaffen des Autors Wolfgang Hermann in einer besonderen Verbindung: dem liebenswürdigen Sonderling Herr Faustini. 2006 erschien mit „Herr Faustini verreist“ der erste Band. Knapp 20 Jahre später ist mit „Herr Faustini und die Glatze der Welt“ der sechste Band erschienen. Schreiben ist Bilder in Folge zu bringen, sagte der 64-jährige, in Wien lebende Vorarlberger einmal. Nirgends passt dieser Satz besser als zu Hermanns Eigenbrötler. Nur so vermag es der vielfach ausgezeichnete Literat, die gewöhnlichen Alltäglichkeiten detailreich zum Leben zu erwecken.
Mehr noch: einen Sog zu erzeugen, der Spannung in das unaufgeregte Dasein bringt. Hermann erschafft eine Welt, die den kleinen Dingen Farbe gibt. So entstehen beim Lesen die Abenteuer im Kopf. Wären wir nicht alle gerne ein klein bisschen wie Herr Faustini?

Wie viel Herr Faustini steckt in Ihnen? Oder ist er ein Seelenverwandter?

HERMANN Herr Faustini hat mich damals in meiner dunkelsten Zeit aus einem schwarzen Schacht gezogen. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Er besucht mich von Zeit zu Zeit und bereitet mir Freude. Es scheint, ich komme nicht mehr von ihm los. Und wie das bei engen Beziehungen so ist, vermengen sich zwei Seelen nach und nach.

Der all umspannende Gedanke ist die Parallelität zwischen dem Kahlschlag der Erde und dem Haarverlust der Männer. In welcher Verbindung steht der kauzige Antiheld zu diesem Gedanken? Wie passt das zu Herr Faustini?

HERMANN Die Theorie von der wahren Ursache der vermehrten Glatzenbildung bei jungen Männern ist natürlich ein kleiner Scherz, der aber etwas in Gang bringt. Wie das so ist, wenn man sein Augenmerk auf etwas legt, sieht man überall Entsprechungen. Die Glatze ist hier der kleine Einstiegswalzer in die Geschichte.

Herr Faustini lebt in Hörbranz. Welche Rolle spielt das Ländle in Ihrem Schaffen?

HERMANN Vorarlberg ist meine Heimat, die eine tragende Rolle in meiner Arbeit spielt. Nicht nur die Faustinis sind hier angesiedelt, sondern die Matrize meiner Bücher ist wohl meine Herkunft von hier.

Und die Sprache? Welche Möglichkeiten eröffnet sie?

HERMANN Ich denke, es ist wie in der Musik. Schon der erste Ton gibt eine Richtung vor, ob getragen oder heiter. Ich verknüpfe innere Bilder miteinander, ich suche nach dem Sog der Bilder. Das ergibt dann einen Rhythmus, und der geht in Sprache über.

Sie sagten einmal: „Mich interessieren Menschen, denen ich in meinen Büchern ein Leben schenken möchte. Wer könnte das als Nächstes sein?

HERMANN Herr Faustini lässt mich noch nicht los. Aber ich werde auch andere Charaktere durchs Leben begleiten.

Die Gesellschaft ist im Wandel, der Ton wird rauer: Bräuchte es nicht mehr Menschen wie Herr Faustini auf dieser Welt? Können sie etwas verändern?

HERMANN Wenn jeder Zweite ein Herr Faustini wäre, würde den anderen bald der Spaß am Streit vergehen, denn mit Faustini kann man nicht streiten, dafür geht er zu unschuldig durchs Leben.

Vorarlberger Nachrichten April 2025


Wer sich eine kleine Freude im Alltag wünscht, sollte zu Wolfgang Hermanns neuem Roman „Herr Faustini und die Glatze der Welt“ greifen. Über 100 Seiten kann man hier den Hauptprotagonisten auf einer Reise von Vorarlberg nach Wien und wieder zurück begleiten, aber eigentlich bei viel mehr: Beim Aufspüren von Erinnerungen an die Vergangenheit, aber auch beim Erleben vieler schöner neuer Begebenheiten. Begleitet von angenehmen Emotionen.
Die titelgebende „Glatze der Welt“ ist eigentlich nur ein Nebenaspekt dieses im Milena-Verlag erschienenen Buches. Denn im Fernsehen wird die These geäußert, dass „die um sich greifende Glatzenbildung junger Männer“ mit der Rodung und Verwüstung weiter Flächen der Erde zusammenhänge, also „die Glatze der Welt“ darstelle. Dennoch freilich ein Thema, das Herrn Faustini zu intensivem Nachdenken anregt.
Unaufdringlich unterhaltsam ist aber nicht nur dieser Aspekt, sondern die ganze Erzählung über den älteren Herrn aus Hörbranz am Bodensee, der zunächst im Zuge eines Spaziergangs in der dortigen Kirche Sankt Martin verweilt, wo er beim Betrachten des Verkündigungs-Bildes eine Erscheinung erlebt. Damit nicht genug, lernt er später im Bahnhofs-Café einen wohl ähnlich gesinnten Mann namens Martin kennen, dessen Haustier ein Eichhörnchen namens Luther ist.
Weil Herr Faustinis neuer Freund einer alten Liebe, aus der aufgrund unglücklicher Umstände nichts geworden ist, in Wien nachspüren möchte, animiert er diesen zu einem gemeinsamen Bahnausflug in die Bundeshauptstadt - mit mehrtägigem Aufenthalt. Dort gelingt es Herrn Faustini, die bekannte Wiener Grantigkeit weniger wahrzunehmen als die vielen positiven Eindrücke, die auch die Wienerstadt zu vermitteln vermag – herzhaftes Kinderlachen im Park etwa.
Dass beide Herren – auf unterschiedliche Art und Weise – bei ihrem Wien-Ausflug tatsächlich die Liebe oder zumindest Ansätze davon finden, scheint eine Belohnung für die positive Gemütslage zu sein, mit der zumindest Herr Faustini die hier geschilderten Tage angeht.
Der früher in Vorarlberg und nun in Wien lebende Autor, der nicht nur bereits fünf weitere Bücher über Herrn Faustini verfasst, sondern auch 1992 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teilgenommen hat, schafft es, diese positiven Schwingungen mit einer sehr feinen Sprache zu transportieren, deren Tonfall oft angenehm emotional und leicht philosophisch, aber nie pathetisch wirkt. Genau so sollte man dieses Werk auch lesen, dann kann man diese positive Grundtonalität mit in den Alltag nehmen.

Puls 24.at, April 2025


Uberwältigende Eindrücke einer Stadt

Vor fast 20 Jahren hat der aus Bregenz stammende Autor Wolfgang Hermann seine Figur „Herr Faustini“ präsentiert – einen etwas schüchternen älteren Mann, der mit seinem Kater in Hörbranz lebt und jeden Augenblick seines Lebens ernsthaft und ausgiebig zelebriert. Nach den vier weiteren Geschichten „Herr Faustini und der Mann im Hund“, „Die Augenblicke des Herrn Faustini“, „Herr Faustini bekommt Besuch“ und „Herr Faustini bleibt zu Hause“ ist nun ein weiterer Teil der Buchreihe erschienen.
Hermann lebt nach längeren Auslandsaufenthalten wieder in seiner früheren Studenten stadt Wien, dorthin führt er auch seinen Herrn Faustini, dessen Jugenderinnerungen plötzlich wieder aufflammen, während er sich durch die Straßen der Stadt bewegt. Starke Eindrücke dieser Vergangenheit verweben sich auf wundersame Weise mit der Gegenwart der Figur, die laufend kleine Überraschungen bereithält.
Nicht unbeteiligt daran ist die Stadt selbst, denn in Wien fühlt sich Faustini wie in eine andere Zeit versetzt. „WasHerr Faustini in den düsteren kleinen Seitengassen ahnte, das war mehr als ein einer Toten entrissenes Grammofon. Es war der Atem der vergessenen, von denen, die hier einst gelebt, gefühlt, gehofft und geatmet hatten, nicht aufgebrauchten Zeit, deren nicht ganz ausgelöschte Gegenwart Herr Faustini spürte.“
Besondere Momente mit Details Die Geschichte dreht sich um den Alltag dieses Mannes, der aus ganz vielen Zufällen besteht, weil die Figur sich vom Leben treiben lässt. Mit ihr taucht Hermann ein in das gewöhnliche Leben von ganz unaufgeregten Personen, die er lebendig und detailreich beschreibt und die Situation dadurch nahbar macht. Fast spielerisch einfach verschafft der 1961 geborene Autor einen Zugang zum Wesen dieser Person und der Atmosphäre von Situationen. So ist in wenigen Sätzen oft schon alles gesagt. „Herr Faustini setzte sich auf die Bank mit dem Rücken zur Wand und war einfach nur da.“
Besonders eingenommen wird Herr Faustini diesmal – wie der Titel schon andeutet – von Menschen mit Glatzen; ein Umstand, der ihn an der perfekten Welt zweifeln lässt, denn „damals, als Herr Faustini jung war, hatten junge Männer noch Haare auf dem Kopf gehabt.“ Doch als er sich später im Bahnhofscafe mit einem glatzköpfigen Mann anfreundet, kann er seine Vorurteile doch schnell überwinden. Die beiden reisen nach Wien, um eine Frau wiederzufinden und Herr Faustini trifft tatsächlich eine Frau, wenn auch ganz anders als erwartet.
Kontrastreich schreibt Hermann über das Glück in den kleinen Momenten und streut philosophische und geistreiche Sätze, die seinen Charakteren über bedrückende, schwierige Kindheiten hinweghelfen. (…)
„Für Herrn Faustini war jeder Schritt durch die Stadt besonders, denn er ging auf den Spuren von damals, als er in Klaus' VW-Bus genächtigt hatte.“ Das Schöne ist, dass man beim Lesen gar nicht darauf wartet, bis etwas passiert, weil man sich einmal hineingefunden, ganz gut an diese beruhigende Erzählweise gewöhnt.
Das Buch lebt von diesem Charakter, der in seinem entspannten Leben Zeit hat für die kleinen Dinge, die um ihn herum passieren, und seiner fantasievollen Gedankenwelt. Er beobachtet seine Mitmenschen ganz genau und es gelingt ihm, aus alltäglichen Situationen besondere Momente herauszufiltern und sich auch noch darüber bewusst zu werden.
Herr Faustini ist aber auch ein Mann, der sich schnell aus der Ruhe bringen lässt, sich gedanklich im Kreis dreht und natürlich alles glaubt, was er von „weisen Männern“ im Fernsehen hört. Aus Mangel an Ereignissen wird alles zum Ereignis und jeder Ort wird mit Erinnerungen verknüpft, in denen immer auch ein bisschen Sehnsucht mitschwingt.

Kulturzeitschrift Dornbirn, April 2025


Ein wunderbar wunderlicher Herr

Seit fast 20 Jahren erfindet der aus Vorarlberg stammende Autor Wolfgang Hermann Geschichten rund um den stillen und in seiner Unscheinbarkeit so zufriedenen Herrn Faustini. Die Figur habe Hermann, wie er selbst einmal beschrieben hat, gerettet: Als Anfang der 2000er-Jahre sein Sohn mit 17 Jahren starb, konnte er nichts mehr veröffentlichen. Erst als er sich auf das Komische stürzte und sich der sonderbare Herr Faustini in seinem Kopf einnistete, kam das Schreiben wieder zurück in Hermanns Leben.
Im sechsten Band „Herr Faustini und die Glatze der Welt“ lernt der eigentümliche Herr, der in Hörbranz in Vorarlberg lebt, den nicht weniger sonderbaren Martin kennen, der ein Eichhörnchen als Haustier hält. Gemeinsam reisen sie nach Wien, wo der glatzköpfige Martin eine gewisse Evelyn zu finden hofft, die ihm vor Jahren während eines Aufenthaltes in der Jugendpsychiatrie beistand. Doch in Wien trennen sich bald die Wege der beiden Freunde und Faustini streift auf eigene Faust durch die Stadt, in der er als Jugendlicher ein paar Tage verbracht und als junger Mann einige Jahre studiert hat. Dort kommt es zu einer unerwarteten Begegnung.
Auch wenn es etwas dauert, bis die parabelhaft erzählte Geschichte in Gang kommt, bezaubert Faustini mit seiner Gleichmut, Zufriedenheit und Zurückgenommenheit. Wie wohltuend, in Zeiten der Influencer, Aufsteiger und Selbstoptimierer von einem zu lesen, der das Leben in der Stille, im Hintergrund liebt und mit naivem, kindlichem Blick viele Wahrheiten unter der Oberfläche hervorschält.
Dass mancher Satz gefährlich nah am Klischeehaften kratzt, verzeiht man ihm gerne.

Oberösterreichische Nachrichten März 2025


Herr Faustini könnte sich als Neffe eines gewissen Herrn Palomar erweisen. Der italienische Autor und Theoretiker der Gruppe Oulipo (L‘Ouvroir de Littérature Potentielle) Italo Calvino hat einen Prototypen geschaffen, der sich liebevoll tollpatschig durch die Welt bewegt und dabei alle zentralen Fragen anfasst und prüft. Da die Gruppe Oulipo als „Werkstatt für potenzielle Literatur“ ferner die Attribute Fantasie, Fragment und Formenstrenge hochhält, fragt man sich, ob Wolfgang Hermann nicht insgeheim dort Mitglied ist. Denn speziell in seiner Faustini-Reihe öffnen sich magische Räume, die mit Andeutungen versehen sind, und die genannten Vorzüge lassen sich leicht unterstellen. Aber wer weiß schon, wo er oder sie überall Mitglied ist?
Die Geschichte beginnt nach einem apokalyptischen Bericht über abgeholzte Wälder in Alaska mit einem Blick in den Himmel. Während Faustini dank dieser Perspektive einen Hauch Unendlichkeit atmet und der Perseidenschauer milde Erhabenheit spendet, so schreckt seine Begleiterin vor diesem Blick ins Universum zurück. Für sie lässt sich das Unfassbare schwer ertragen. Mit einer einzigen Szene entsteht ein Bild von Zugehörigkeit und Einsamkeit. Das Alleinsein ist Faustini gewohnt, aber er weiß auch, es zu meiden. Er findet ein erweitertes Wohnzimmer in der Bücherei, wo ihm mit Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer ein seit langem vertrautes Familienmitglied begegnet und bei ihm bleibt. Doch auch trotz Jim Knopf ist es im stillen Heim eben das Gegenteil: unheimlich. Denn „das Tropfen eines schadhaften Wasserhahns ist das einzige Lebenszeichen weit und breit.“
Die Lektüre lässt allerdings eine Blume erblühen, die immer in Gefahr ist, rasch zu verwelken. Vor allem dann, wenn sich Literatur bedroht sieht durch den Literaturmarkt und das, was man Realismus nennt.
Die Blume ist seit Novalis nicht ohne Gefahr in die literarische Hand zu nehmen. Kann doch das romantische Sehnsuchtsmotiv mittlerweile als verdorrt betrachtet werden. Dieses Risiko ist Hermann nur zu gut bewusst, schließlich hat er einst über Friedrich Hölderlin promoviert. Er ist gewissermaßen mit allen romantischen Wassern gewaschen. Die Fortsetzung der Romantik mit anderen Mitteln im 21. Jahrhundert kann man auch diesem Faustini-Band attestieren, denn die Flughöhe ist durch realistische Windbedingungen angemessen. Hier findet sich kein Ikarus am Radar! Das zeigt sich etwa an einer illuminierenden Szene in der Pfarre zum heiligen Martin in Hörbranz bei Bregenz, wo Faustini zuhause ist. Hier vertieft sich unser sympathischer Anti-Held in eine Verkündigung des Frühbarockmalers Cristofano Allori und erfährt eine Epiphanie. Ist es der Erzengel Gabriel oder doch nur ein altes Männlein mit schlohweißem Haar, das zu ihm spricht? Das Schöne an der Literatur ist, dass das offen bleiben darf. Es ist die Andeutung, die in jedem Kapitel ihren Platz findet, und doch spricht das Buch von einem Ganzen. Angesichts der Erscheinung erinnert sich Faustini an ein Vorgänger-Gemälde aus Florenz: Das Gnadenbild in der Kirche Santissima Annunziata in Florenz. Um 1360 soll es entstanden sein. Der Legende nach soll ein Engel Marias Gesicht zu Ende gemalt haben.
Da steckt allerdings mehr als nur Glaubensseligkeit dahinter. In der Renaissance bricht die Wirklichkeit in die sakrale Kunst ein. Es sind die Landschaften der Apennin-Halbinsel, die den bis dahin meist goldenen Bildhintergrund ablösen. Und es sind Gesichter mit markanten Zügen, wiedererkennbare Physiognomien und weltliche Themen, die in die Gemälde drängen. Hermann ruft angesichts dieser Bildbeispiele die Botschaften der Renaissance in Erinnerung: So entsteht eine Verdoppelung der Aussage: Eine davon lautet salopp formuliert – verkrieche dich nicht in deiner Höhle!
Diesem Appell folgt Faustini. Man kann sich auch in der Höhle der Gegenwart verkriechen, diese ist für Faustini durch eine träge Gleichförmigkeit der Tage und eklatante Ereignislosigkeit entstanden. Man merkt beim Lesen rasch: Es ist eng in dieser Höhle, hier kann sich Faustini nicht bewegen. Es öffnet sich ihm zuerst die Tür zur Vergangenheit. So fängt sein Geist sich an, wieder zu bewegen. Vor mancher Richtung, in welcher er sich bewegt, graut es ihm. Da blitzt etwa Ludwig Uhlands Gedicht Der gute Kamerad auf, das die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg besonders laut gesungen hat, und das der einstige Schuldirektor – man ist fast versucht zu ergänzen „inbrünstig“ – intonierte. Das Lied erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit.
Seine erste Reise überhaupt – ein Roadmovie ins kommunistische Ungarn – holt den Sinnierenden ein. Damals verschaute er sich in die Mutter seines Kompagnons Klaus, während dieser Faustinis Schwester auf einem sozialistischen Acker liebte und beim Lustschrei die immer griffbereiten Gewehre der Soldaten zum Erklingen brachte. Die Maschinengewehrsalven vertrieben die Möchtegern-Hippies aus ihrem Paradies. Das waren die Abenteuer der Jugend, die mit einem Verweis auf die britische Rockband Led Zeppelin zeitlich markiert ist. Wohingegen die Schwester heute an der Seite ihres als Schönheitschirurg arbeitenden Mannes das Leben im goldenen Käfig verbringt – immerhin durch Poolpartys mit Reichen und mit Sicht auf den Laggo Maggiore getröstet.
Es ist die Skizze, die jedes Kapitel in Herr Faustini und die Glatze der Welt ausmacht. Faustini trifft im Bahnhofscafé Martin, der ebenfalls nicht zu den ganz Erfolgreichen zu zählen ist. Seine Markenzeichen sind eine Glatze und ein seltener Begleiter, nämlich das Eichhörnchen Luther. Über Martin Luther ließe sich viel erzählen, aber vor allem dient der Verweis auch als Zeichen des Aufbruchs und einer Reformation, in diesem Fall einer sehr persönlichen. Martin trauert Evelyn nach und Faustini trauert einem vergangenen Leben nach, das zwar voller verpassten Möglichkeiten ist, aber eben auch die muss man erst einmal gehabt haben. Die beiden machen sich auf nach Wien und reisen in ihre Vergangenheit, um in einer neuen Zukunft anzukommen.
„Kommt es dir auch so vor, sagte Martin, als würde die Welt draußen vor dem Fenster vor uns fliehen?“ (S. 49). So endet Kapitel 9 und damit ist die buchstäbliche Reise im Zug genauso angesprochen wie die metaphorische durch die eigene Vergangenheit.
Faustinis Erlebnisse sind mit vielsagenden Details angereichert. So erinnert er sich an seine Studentenzeit in Wien, an die literarischen Vorbilder wie Doderer und später anlässlich der Prag-Reminiszenz naturgemäß an Kafka. Das Märchenhafte hüllt den Schrecken des Zusammenlebens ein, selbst der sadistische Lehrer wird so noch gebannt und seiner Gewalt beraubt. Das Verstörende am „System“ ist eingepackt in die eine oder andere ironische Miniatur. Wenn Faustini etwa bei seiner Prag-Reise erkennen muss, dass der beständige Marsch zur Zimmerbuchung beim Bahnhof leicht durch eine Bestechung hätte abgewandt werden können. So aber muss er täglich ein neues Zimmer buchen, dass er bloß für eine Nacht beziehen darf.
Der Gegensatz zwischen dem Land und der großen Stadt manifestiert sich in diesem Befund: „Für Dinge, die aus der Zeit gefallen waren, war in Hörbranz kein Raum. Erinnerungslos erschien ihm das Dorf, glatt gestrichen vom Wind des Vergessens, während hier im Schimmer so mancher düsteren Seitengasse die Pflanze der Vergangenheit sich noch blühend behauptete.“ (S. 62). Es ist gerade diese Vergangenheit, die sich beim Akt des Erinnerns neu zusammensetzt und damit auch die Gegenwart nährt. Denn im finalen Wandel begegnet Faustini einer mütterlich anmutenden Frau, die er einst in Klaus‘ Mutter zu erkennen meinte. Diesmal aber gelingt Faustini die Begegnung und verharrt nicht nur in gut geübter Projektion.
Die kleinen Spannungsbögen sind mit einem größeren verbunden. Immer wieder geht es um das Reisen in den Faustini-Büchern. Der Aufbruch ist nötig, um einen verborgenen Teil der Persönlichkeit zu entdecken oder etwas Verhülltes der Vergangenheit offen zu legen. Das Fragmentarische als dramaturgisches Mittel, um eine romantische Aura zu erzeugen, gelingt Hermann immer wieder neu. Manche Verspieltheit artet in Blödelei aus, sie ist allerdings nie so geschwätzig, dass sie die Hauptfigur beschädigt. Die dezenten Charakterisierungen schaffen eine ausdrucksstarke Typologie. Etwa wenn ein Wiener Ober so porträtiert wird: „Hagebuttentee, bitte sehr, sagte der Kellner, und er sagte es so, dass man spürte, er war froh, dass er es nicht oft am Tag sagen musste.“
In seinen Texten hat Wolfgang Hermann seinen Eltern schon mehrmals literarisch aufgelauert. Auch diesmal folgt eine minimale Referenz auf die Über-Mutter und den Unter-Vater. Doch das Psychologische begehrt nicht auf, sondern weiß um die eigene Rolle in diesem konzentrierten Roman, der dafür plädiert, in Bewegung zu bleiben.
Denn ein Leben im Stillstand ist einfach so kahl wie mancher Kopf.

Literaturhaus-wien.at, Alexander Peer, März 2025

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